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Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495

und die Hände Tuma Rasantasenas täuschend ähnlich in Wachs nachbilden. Ebenso besorgte ich mir von einem Fabrikanten von Modellpuppen eine auseinandernehmbare Gliederpuppe, die genau den Körpermaßen des Indiers entsprach. Mit diesen für meine Absichten durchaus notwendigen Dingen ausgerüstet kehrte ich in Begleitung Rasantasenas nach Amerika zurück. – In welcher Weise ich dann die Leitung der hiesigen Gewerbeausstellung für meine Pläne gewann, was ich dem Direktor Singleton über meine Erlebnisse in Indien und meine Bekanntschaft mit Tuma Rasantasena berichtet habe – das alles ist ja von den Zeitungen aufs ausführlichste in die Öffentlichkeit getragen worden. Den kostspieligen Glassarg ließ ich mir nach meinen Angaben erst in Amerika anfertigen. Er ist bekanntlich vor Beginn des Experiments von der Beobachtungskommission genau daraufhin untersucht worden, ob es einem durch Festschrauben des Sargdeckels an den Unterteil darin Eingeschlossenen durch die ganze Konstruktion tatsächlich vollkommen unmöglich gemacht sei, sich aus diesem gläsernen Gefängnis von innen heraus und nur mit eigener Hilfe zu befreien. Die Kommission hat ja denn auch ihren Spruch dahin abgegeben, der Sarg entspreche den gestellten Anforderungen voll und ganz. Sie hielt eben diese offenbare Unmöglichkeit einer Befreiung ‚von innen heraus‘ für die wichtigste Kontrollmaßregel für den Indier. Denn darauf, daß sich jemand in den nachts andauernd unter strengster Bewachung stehenden Pavillon Eingang verschaffen, die oberste Glasplatte des Sargdeckels in aller Seelenruhe dann eben von außen losschrauben und so den Prinzen aus dem deutschen Märchen spielen könnte, der das Fakir-Dornröschen aus dem Zauberschlaf erweckt – darauf kam niemand von den klugen Herren!

Das Direktorium der Ausstellung schloß also mit mir einen außerordentlich vorteilhaften Vertrag und bewilligte mir auch für den Aufbau des Pavillons gerade die eine Stelle des Ausstellungsgeländes, auf die es mir ankam, nämlich genau über der großen Kanalisationsröhre, die unter dem ursprünglich projektierten Kinderspielplatz vor der Haupthalle vier Meter tief unter der Erde entlangführt, wie ich schon damals beim Vergleichen der beiden Zeichnungen in unserem Bureau in Pittsburg festgestellt hatte. Dieselbe Zeichnung des Kanalisationsnetzes von Cleveland sagte mir dann auch, daß man von dem Keller dieses Häuschens aus einen Zugang zu einem der Zweigrohre herstellen konnte. Ich mietete daher dieses Grundstück für ein halbes Jahr, und –“

„Mensch, Sie sind ja der geriebenste Halun-, pardon, der geriebenste Geschäftsmann, wollte ich sagen, der mir je vorgekommen ist!“ unterbrach ihn hier der alte Somgrave begeistert. „Also auf die Weise haben Sie sich mit ihrem famosen Genossen in Verbindung gesetzt, so von unten herauf, während die Wächter oben in treuester Pflichterfüllung den Pavillon umkreisten!“

„Zunächst danke ich für das Kompliment, Herr Somgrave,“ meinte Shelders ohne jede Empfindlichkeit. „Dann aber möchte ich doch sehr nachdrücklich betonen, daß die Durchführung meines Kunststückes keineswegs so einfach gewesen ist, wie Sie es anzunehmen scheinen. Mußte ich doch jeden Tag eine Entdeckung und damit den Zusammenbruch meiner ganzen Hoffnungen fürchten. Um es ehrlich einzugestehen, Herr Somgrave, hätte ich vorher geahnt, welche Anforderungen die Durchführung meines Planes an meine Nerven stellen würde – niemals hätte ich mich auf diese Sache eingelassen! Es dürfte Sie ermüden, wollte ich Ihnen ein eingehendes Bild meiner Tätigkeit in jenen Wochen vor der Eröffnung der Ausstellung entwerfen. Bedenken Sie zum Beispiel, daß ich schon mein Äußeres völlig verändern mußte, um der Gefahr zu entgehen, von irgend jemand als der Ingenieur Hannibal Shelders angesprochen zu werden. Der Vollbart, den ich mir sofort bei meiner Abreise nach Hamburg stehen ließ – leider hat er zur Verschönerung meines bisher völlig bartlosen Gesichts nicht das geringste beigetragen – sowie diese Brille mit den grauen Riesengläsern erfüllten ihren Zweck jedoch vollkommen. Niemand hat bisher hinter meiner Person etwas anderes vermutet als eben den Impresario Franklin Houster, der mit seinem Schützling direkt aus Indien hierher nach Cleveland gekommen ist. Bedenken Sie ferner, welch eine Leistung es für Tuma Rasantasena und mich bedeutete, von dem Keller dieses Gebäudes aus einen Schacht nach dem Kanalisationsrohr zu graben, und einen zweiten dann bis unter den Fakirpapillon! Diese Arbeit konnten wir zudem nur des Nachts vornehmen, und dazu noch in steter Furcht vor den giftigen Gasen, die dem Schlammwasser der halb gefüllten Kanäle entströmten, und vor einer Überraschung durch eine Kolonne der Kanalisationsreiniger. Vergessen Sie auch nicht, Herr Somgrave, daß ich Tuma Rasantasena die Rolle, die er an dem Tage seiner Einsargung zu spielen hatte, wie ein gewissenhafter Regisseur eindrillen und ihn nachher vor jedem fremden Blick in diesem einsamen Gehöft ängstlich verbergen mußte. – Und – wenn Sie nur das Wenige, das ich Ihnen eben andeutete, genügend zu würdigen verstehen, dann werden Sie auch begreifen, wie stolz ich darauf war, mein Werk bisher so glänzend gefördert zu haben. – Jetzt“ – der junge Ingenieur verbeugte sich leicht gegen Vicky hin – „haben Sie, mein Fräulein, mir die Überzeugung aufgezwungen, daß ich für einen – na, sagen wir für einen Hochstapler großen Stils doch nicht die nötige Umsicht besitze, denn diese Geschichte mit dem Seidenfädchen Ihres Sonnenschirmes ist –“

„Halt, mein Lieber!“ fuhr der Millionär polternd dazwischen. „Über Ihre Fähigkeiten zu urteilen, gestatten Sie wohl besser anderen Leuten. Die Geschichte ist übrigens zu interessant und zu spannend, um sich auch nur das geringste davon entgehen zu lassen. Da wäre zunächst –“

„Also hören Sie weiter. Den besten Überblick über das, was sich sozusagen hinter den Kulissen des Fakirpapillons abspielte, erhalten Sie wohl, wenn ich Ihnen jenen Tag schildere, an dem der Indier das Experiment begann. Es war ein Donnerstag, und zwar der erste Donnerstag nach der Eröffnung der Anstellung. Für mittags zwölf Uhr hatten Riesenplakate die Einsargung Tuma Rasantasenas angekündigt. Eine Stunde vorher verabreichte ich hier in diesem Zimmer meinem Fakir eine Dosis eines unschädlichen Schlafpulvers, die –“

„Schlafpulver – Schlafpulver! Das ist’s ja, was uns noch zu guten Freunden machen wird, woran ich sofort gedacht habe!“ rief Somgrave. „Aber lassen Sie sich nicht stören. Wenn Sie mich jetzt auch noch nicht begreifen, bald soll Ihnen ein Licht aufgehen, und zwar ein sehr wertvolles Licht, mein Bester, so wahr ich Percy Somgrave heiße und in New York eine chemische Fabrik besitze.“

„Also mein Fakir erhielt eine Dosis eines unschädlichen Schlafpulvers, dann brachen wir nach der Ausstellung auf, wo uns in dem Pavillon bereits eine Korona der allergelehrtesten Mediziner und eine dicht gedrängte Menge empfing. Tuma Rasantasena lehnte während der nun folgenden Vorbereitungen für seine Einsargung und der erläuternden Ansprache Professor Weaslers in völlig unbeweglicher Haltung und mit halbgeschlossenen Augen an einem Pfeiler, als ob ihn die ganze Sache auch nicht das mindeste anginge. Mit seiner schlanken, in den hellen Burnus gekleideten Gestalt, dem mageren braunen Gesicht und dem stattlichen dunklen Vollbart gab er eine Figur ab, die in ihrer starren Ruhe wirklich etwas Geheimnisvolles an sich hatte. Bereits während der letzten Sätze von Professor Weaslers Rede bemerkte ich, daß der Indier offenbar mit aller ihm zu Gebote stehenden Energie gegen die immer stärker werdende Schlafsucht ankämpfte, und er taumelte fast, als er dann die wenigen Schritte nach dem offenen Sarge hin machte, um sich mit meiner Hilfe in sein gläsernes Gefängnis zu legen. Das Schlafpulver tat eben ganz in der von mir vorher berechneten Weise seine Schuldigkeit. Nachdem ich das Gewand des Fakirs hierauf geordnet und er die Hände über der Brust gekreuzt hatte, hielt ich ihm eine kleine Glaskugel dicht vor die Augen. Nur wenige Minuten dauerte es, bis ihm die Lider zufielen und seine regelmäßigen Atemzüge verrieten, daß er in tiefstem, anscheinend durch Hypnose hervorgerufenen Schlafe lag. Eine Viertelstunde später war der Sarg bereits zugeschraubt, versiegelt und auf die beiden Böcke unten in der mit Holz ausgekleideten Grube gesetzt. Zwölf Stunden später, gegen Mitternacht, watete ich mit einer Blendlaterne in der Hand und einer Leiter über der Schulter durch die übelriechenden Wasser der unterirdischen Kanäle bis zu jener Stelle hin, wo wir, Rasantasena und ich, mit unendlicher Mühe und Vorsicht den Schacht bis dicht unter die Gruft des Fakirpavillons getrieben hatten, eine Arbeit, die wir natürlich erst zu Ende führen durften, nachdem der Boden des Fakirgrabes mit Brettern eingedeckt war. Aber auf weitere Einzelheiten über die Anlage sowohl dieses als auch des in den Keller meines Häuschens hier mündenden Schachtes will ich mich nicht einlassen, möchte nur bemerken, daß es für mich als Tiefbauingenieur kein großes Kunststück darstellte, diese beiden Schächte ganz unseren Zwecken entsprechend und für uneingeweihte Augen vollkommen unauffällig herzustellen. – Mit Hilfe der Leiter stieg ich dann so weit empor, bis ich den aus Brettern bestehenden Bodenbelag der Gruft über mir mit den Händen erreichen konnte. Eine feine Stichsäge, die fast geräuschlos arbeitete, beseitigte auch dieses letzte feste Hindernis, und durch das aus dem Fußboden herausgeschnittene Loch gelangte ich, nachdem ich einen der Teppiche, mit denen auf meine Veranlassung der Fußboden der Grube angeblich nur zur Dekoration bedeckt war, zurückgeschlagen hatte, ohne weitere Anstrengung in das Grab Rasantasenas und damit auch in das Innere des Pavillons. Eine ganze Weile stand ich zunächst noch mit abgeblendeter Laterne regungslos, angespannt lauschend neben[1] dem Glassarge da. Doch meine Angst, das leise Kreischen der Säge könnte von dem Wächter oben gehört worden sein, war überflüssig. Ganz deutlich drang jetzt das Geräusch der gleichmäßigen, langsamen Schritte des Mannes an mein Ohr, der da über mir ahnungslos den gut verschlossenen Pavillon umkreiste, um jedem Unberufenen den Zutritt zu verwehren. Und diese schweren Schritte, unter denen der Kies knirschte, diese einzigen Laute, die ich da unter der Erde in der schweigenden Nacht vernahm, beruhigten mich vollkommen. Sicherlich hat auch damals um meine Lippen wieder jenes ironische Lächeln gespielt, das Sie, mein Fräulein, vorhin zu erwähnen beliebten.“

Vicky Somgrave nahm diesen Hieb schweigend hin. Sie hatte über ihren fraglos in seiner Art genialen Feind bereits anders denken gelernt und folgte mit Spannung, die sie gar nicht mehr zu verbergen suchte, dessen Ausführungen.

„Jetzt, da ich mich ganz sicher fühlte,“ setzte Hannibal Shelders inzwischen ohne Unterbrechung seine Erzählung fort, „ließ ich den Lichtstrahl meiner Laterne über das Kopfende des Sarges, über des Indiers Gesicht gleiten. Aber dessen Augen blieben geschlossen, keine Bewegung deutete darauf hin, daß er schon erwacht war. Mit einem Schraubenzieher begann ich nun vorsichtig die Schrauben zu lösen, die die oberste, sehr breite Glasplatte des Sargdeckels mit den Seitenteilen verbanden, was mir auch weiter keine Schwierigkeiten machte, für den in dem gläsernen Sarge Eingesperrten freilich selbst mit den besten Werkzeugen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre. Schon nach wenigen Minuten konnte ich die schwere Glasscheibe mühelos abheben. Tuma Rasantasenas versiegeltes Gefängnis war damit gesprengt, ohne daß die Siegel irgendwie beschädigt zu werden brauchten. Meine nächste Ausgabe war nun, den noch immer wie ein Murmeltier schlafenden Indier wachzubekommen. Auch das gelang mir durch ein Ätherfläschchen, welches ich ihm recht dicht unter die Nase hielt. Das folgende brauche ich wohl nur anzudeuten, da alles übrige sich nach diesen Aufklärungen leicht zusammenreimen läßt. Also, mit meines Fakirs Unterstützung brachte ich dann die in das helle Gewand Tumas gehüllte Gliederpuppe, der der von Kastan modellierte Wachskopf aufgesetzt war, in dem Sarge unter, ordnete sorgfällig den Faltenwurf des Burnus nach der Vorlage einer der am Vormittag des Einsargungstages hergestellten Photographien, und verließ dann mit meinem Gefährten die Gruft auf demselben Wege durch die Kanäle, nachdem wir den Sarg und auch die Fußbodenöffnung wieder verschlossen, letztere auch mit dem Teppich überdeckt und die Spuren der Säge so den Blicken entzogen hatten. – Sie sehen also, Herr Somgrave: so schlau wie Professor Weasler, der heute die photographischen Aufnahmen zur Kontrolle über die völlige Unanfechtbarkeit des Experiments so warm empfahl, war ich schon lange! – Um nun endlich mit dieser Beichte fertig zu werden: Selbstverständlich habe ich dem Publikum den wirklichen, ‚schlafenden Fakir‘ nur an den Tagen gezeigt, wo der Glassarg in den Pavillon zur Untersuchung seines Inhalts durch die Ärzte der Überwachungskommission hinaufgezogen wurde, und das war eben vor einer Woche und heute. Sonst bewunderten die verehrten Ausstellungsbesucher nichts als eine tadellos gearbeitete Puppe. Sie werden sich wohl schon selbst gesagt haben, Herr Somgrave, daß ich natürlich für die beiden Tage, an denen der Indier mit seinem gläsernen Gefängnis aus der Gruft hinaufgewunden wurde, die Wachspuppe wieder gegen meinen Helfershelfer eintauschen mußte. Dies geschah, nachdem ich ihn vorher in derselben Weise für den ‚hynotischen Schlaf‘ empfänglich gemacht, das heißt ihm dieselbe Dosis des Schlafpulvers eingegeben hatte. Und zurzeit stehe ich Ihnen daher eigentlich als vollkommen makelloser und ehrlicher Impresario des berühmten indischen Fakirs gegenüber, denn augenblicklich ruht in dem Glassarge ja wirklich der ‚lebende‘ Tuma Rasantasena. Allerdings nicht mehr für lange, denn nach einigen Stunden werde ich wieder meine nächtliche Wanderung durch die Kanäle antreten und meinen Fakir befreien. – Hätten Sie also, mein Fräulein, Ihre Drohung von vorhin wahr gemacht und wären zu Professor Weasler gegangen, um ihm von Ihrer Beobachtung mit dem aus dem Sarge verschwundenen Seidenfädchen Mitteilung zu machen, so würde der Herr Professor, falls sein Argwohn erwacht und von ihm der Glassarg und

  1. Vorlage: nebend
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1910, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_schlafende_Fakir.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.1.2019)