Seite:Deutsche Sagen (Grimm) V1 249.jpg

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Kräuter abweidete und den Strich so verheerte, daß die Engelsberger fürder kein Vieh mehr darauf halten konnten. Zu denen von Uri kam aber ungefähr ein fahrender Sehüler und rieth, wie sie das Unthier zu vertreiben hätten. Nämlich sie sollten neun Jahr lang ein Stier-Kalb mit purer Milch auffüttern, das erste Jahr von einer einzigen Kuh, das zweite von der Milch zweier, das dritte dreier Kühe und so fort; nach Ablauf der neun Jahre den solchergestalt mit Milch auferzogenen Ochsen durch eine reine Jungfrau auf die Alpe führen lassen. Die Urer hofften auf guten Lohn von den Engelsbergern und nährten einen solchen Stier auf der Alpe Waldnacht, wo man noch heut zu Tag seinen Stall weist, genannt den Stiergaden. Wie nun der Stier zu seinen Jahren gekommen war, leitete ihn eine unbefleckte Jungfrau über den Felsengrat und ließ ihn da laufen. Der Stier, als er sich frei sah, ging sogleich auf das Gespenst los und fing einen Kampf mit ihm an. Der Streit war so hart und wüthig, daß der Stier zwar das Ungeheuer zuletzt überwand, aber der Schweiß von seinem Leib heruntertroff. Da stürzte er zu einem vorbeifließenden Bach und trank so viel Wasser, daß er auf der Stelle des Todes war. Davon hat der Bach seitdem den Namen Stierenbach und außerdem zeigen die Einwohner noch jetzo die Felsen und Steine vor, in denen sich die Hinterklauen des Stiers, während des heftigen Kampfes, eingedrückt haben.

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_249.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)