Seite:Deutscher Dichterwald 067.jpg

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Romanze.

Wie wird mir der Tag so lang!
Noch nicht kommen will der Abend:
Ist die Sonne doch hinunter
Und der Mond hervorgegangen!

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Ungeduldig stehend, wandelnd,

Blick’ ich von dem hohen Walle
In des Nachmittags und Abends
Sich verschmelzende Gestalten;
Dunkler schauen schon die Wipfel

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Von dem nahen Waldesrande,

Und die kühlen Abendlüfte,
Aus Gebüsch und Gräsern wallend,
Dringen mit dem leisen Flüstern
In der Vorstadt weite Straßen.

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Doch am hohen Giebel brennen

Golden noch verlorne Strahlen,
Und der Wolkenhimmel sendet
Rothen Schimmer in die Gassen.
O wie lang noch soll ich harren,

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Bis verdunkelt ganz die Pfade!

O wie lange soll ich säumen,
Eh’ ich Sie zu sehen wage?
Müssig gehn und stehn die Leute,
Nach Vorübergehnden gaffend,

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Und neugierig böse Nachred’

Auch des Besten gern’ empfangend;
Wie so lange soll ich säumen,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_067.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)