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klarsten Ausdruck zu bringen. Er fand die Lösung dieser Aufgabe in der Umfassung der feindlichen Flügel unter gleichzeitigem Angriff gegen die Front. Mit der Vervollkommnung der Waffen glaubte er die Möglichkeit gegeben, Kräfte in der Front zu sparen, um die Entscheidung suchenden Flügel zu verstärken. Bei allen seinen theoretischen und praktischen Kriegsübungen und auch als Kritiker historischer Geschehnisse hat er diesen Gesichtspunkt festgehalten. In weiten Kreisen der Armee hat diese Auffassung Fuß gefaßt. Dagegen machen sich auch Stimmen geltend, die bei aller Anerkennung der Wahrheiten, die Schlieffen gelehrt hat, doch vor der ausschließlichen Anwendung seiner Grundsätze warnen. Sie weisen darauf hin, daß gleichzeitiger Angriff in Front und Flanke Überlegenheit voraussetze und damit dem schwächeren Heer überhaupt die Möglichkeit genommen werde, angriffsweise zu verfahren. Auch die siegreiche Umfassung verbürge nur dann den Sieg, wenn ihr Erfolg sich auf der ganzen Kampflinie geltend machen könne, bevor eine Entscheidung in der Front gefallen sei, was bei sehr langen Fronten offenbar nicht immer der Fall sein würde. Man müsse daher mehr Pfeile in seinem Köcher haben, als bloß den Umfassungsgedanken. Mag man nun diesen Bedenken eine gewisse Berechtigung zusprechen oder nicht, so steht doch fest, daß Graf Schlieffen die Operationslehre wesentlich gefördert und die Grundlage für die Weiterentwickelung der modernen Strategie in gewissem Sinne geschaffen hat.

Arbeit in der Armee.

In der Armee selbst leidet die freie wissenschaftliche Tätigkeit unter der gesteigerten Last des praktischen Dienstes und unter der Fülle der geforderten fachwissenschaftlichen Kenntnisse. Sie lähmen die schöpferische Kraft des eigenen Gedankens, wie sie sich nur aus tiefer Allgemeinbildung ergeben kann. Stark und lebendig hat sich trotzdem der Geist des Vorwärtsstrebens, der Initiative und des offensiven Gedankens in der Armee erhalten und bildet die unerschütterliche Grundlage großer Zukunftsleistungen. Niemals ist vielleicht mehr in der Armee gearbeitet worden, wie in den letzten 25 Jahren, und in dieser Arbeit selbst liegt eine segenbringende Kraft.

Die größte Hingabe und Aufopferung vermag jedoch in der Politik wie auf dem Schlachtfelde die reale Macht immer nur bis zu einem gewissen Grade zu ersetzen, und so konnte wohl auch kein Klarsehender sich der Erkenntnis verschließen, daß die Entwickelung der Armee, wie sie sich unter dem Druck des Reichstages gestaltet hatte, der politischen Lage und den Machtmitteln unserer vermutlichen Gegner keineswegs entsprach.

Umschwung der öffentlichen Meinung.

Mittlerweile war auch in der öffentlichen Meinung ein bedeutungsvoller Umschwung eingetreten. Der Verlauf des Marokkostreits und das schließliche Abkommen mit Frankreich im Jahre 1911 hatten den Stolz des deutschen Volkes auf das Tiefste verletzt. Nun erkannte man, daß die vorhandenen Machtmittel nicht genügten, um den Staaten der feindlichen Tripleentente gegenüber der deutschen Politik Nachdruck zu verleihen. Jetzt war es die öffentliche Meinung, die die Rückkehr zur allgemeinen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/396&oldid=- (Version vom 15.9.2022)