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Ländern Tarifverträge in Kraft sind: Belgien, Bulgarien, Griechenland, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Portugal, Rumänien, Rußland, Schweden, Schweiz und Serbien. Die übrigen der vom Deutschen Reich abgeschlossenen Verträge sind Meistbegünstigungsverträge ohne oder mit ganz vereinzelten Tarifbindungen. (Nebenbei sei erwähnt, daß auch die Tarifverträge sämtlich die Meistbegünstigungsklausel enthalten.) Solche Meistbegünstigungsverträge bestehen mit fast allen Staaten der Erde; in den Ländern China und Siam handelt es sich dabei um die einseitige Meistbegünstigung für Deutschland, während dieses selbst nur den autonomen Tarif gewährt. Im Verkehr mit den andern Staaten aber gilt beiderseitige Meistbegünstigung. Einige orientalische Staaten (Türkei, Ägypten, Marokko, Zanzibar) gewähren Deutschland außerdem einseitige Tarifbegünstigungen. Keine Abmachungen bestehen mit Brasilien, Kuba und Kongostaat. Einigermaßen kompliziert liegen die handelspolitischen Verhältnisse zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. An dieser Stelle muß die Bemerkung genügen, daß Deutschland seinen Vertragstarif und die Vereinigten Staaten ihren Minimaltarif gewähren. Mit England und seinen Kolonien besteht das Meistbegünstigungverhältnis (seit dem 1. August 1898 als ständig erneuertes „Provisorium“). Ausgenommen ist Kanada, mit dem seit der Beendigung des Zollkrieges (1910) ein Abkommen besteht, demzufolge Kanada seinen Generaltarif anwendet und Deutschland für 24 Positionen seines autonomen Tarifes die Zollsätze erhebt, die den Erzeugnissen des meistbegünstigsten Landes gewährt werden.

Würdigung der neuesten deutschen Handelspolitik.

Versuchen wir nunmehr in eine prinzipielle Würdigung dieses neuesten Abschnittes deutscher Handelspolitik einzutreten. Festzustellen ist da zunächst, daß der Grundgedanke der Ära Caprivi auch jetzt festgehalten worden ist: die Vertragspolitik mit gebundenen Tarifen. Was damals zu stürmischen Protesten führte und selbst von Bismarck ein „Sprung ins Dunkle“ genannt wurde, war inzwischen hinsichtlich seiner Zweckmäßigkeit so allgemein anerkannt worden, daß Widerspruch gegen das Prinzip sich kaum noch geltend machte. Regierung und Reichstagsmehrheit haben in keinem Stadium der Vorbereitungsmaßnahmen einen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß die Fortführung der Tarifvertragspolitik dringend geboten sei, und eben deshalb Minimalsätze des autonomen Tarifs, die dies von vornherein unmöglich machten, schlechterdings nicht akzeptierbar seien. Es ist unverkennbar, daß solche Auffassung eine glänzende Rechtfertigung des prinzipiell bedeutsamsten Ausgangspunktes der Caprivischen Handelspolitik bedeutet. Und diese Meinung hat sich erhalten bis auf den heutigen Tag und wird – bei allen Bedenken im einzelnen – je länger desto mehr die Herrschaft gewinnen. Man kann sich die Abwicklung des mitteleuropäischen Handelsverkehrs ohne das System der Tarifverträge mit ihrer langjährigen Gewähr von Stetigkeit und Sicherheit der gegenseitigen Bedingungen gar nicht mehr vorstellen. Unübersehbar wären die Zustände, die sich ergeben müßten, wenn der vorcaprivische Stand der Dinge, die autonome Handelspolitik mit ihrer unerläßlichen Begleiterscheinung des Kampfes aller gegen alle, wiederhergestellt würde und damit in die weitverzweigten internationalen Beziehungen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 696. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/259&oldid=- (Version vom 20.8.2021)