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Mitteln arbeitet, als eigentlich wünschenswert ist. Vielfach werden bei uns neue Investitionen nicht aus Gewinnrücklagen finanziert, sondern durch Kapitalvermehrung und Kreditaufnahme. Gerade bei unseren alten großen Einzelfirmen in der Industrie hat die Kraft darin gelegen, daß sie sich aus sich heraus durch die im Betriebe erzielten Gewinne und Ersparnisse vergrößert haben; das hat, namentlich im Westen des Reiches, die großen Vermögen geschaffen. In der später entwickelten Aktienindustrie, die auf Dividende sehen mußte, ist dieser Standpunkt nicht immer genügend gewahrt worden. Dadurch wurde das Verhältnis zwischen eigenem und fremdem Kapital ungünstig und hat namentlich in früheren Jahren, wo die Erfahrung noch fehlte, häufig zu einer etwas überhasteten Emissionstätigkeit verleitet. Auch Staat und Kommunen trugen durch eine zuweilen beinahe fieberhafte Tätigkeit dazu bei, den Kapitalmarkt stark in Anspruch zu nehmen und zu schwächen, und so wurde ein Zustand geschaffen, der zwar sicher ein Zeichen von Kraft ist, der aber die Sorge um die Liquidität bei den Banken doch nie ganz hat schwinden lassen. Die sog. Bardeckung ist ständig gesunken. Vergleicht man in den Bankbilanzen der letzten 20 Jahre das Verhältnis der Deckung der Depositen und Kontokorrent-Verbindlichkeiten in den deutschen Aktienbanken durch den Barvorrat, so findet man eine offensichtliche Verschlechterung; speziell bei den Berliner Großbanken sank das Verhältnis von 70% auf etwa 20%, wobei noch zu erwägen ist, daß am Jahresabschluß das Bardeckungsverhältnis besonders günstig zu sein pflegt; am 31. Oktober 1911 betrug es nur 4½% und am 28. Februar nur 3,7%. Nun ist freilich richtig und wird von jedem erfahrenen Bankpraktiker bestätigt, daß das Vorhandensein von Barmitteln für die Liquidität keineswegs allein entscheidend ist; man kann mit geringfügigen Barmitteln bei richtiger interner Bankpolitik allen möglichen Eventualitäten unter Umständen ganz ruhig entgegensehen, während man vielleicht trotz großer Kassenvorräte als Bankleiter sorgenvolle Stunden hat. Es entscheiden eben andere Gesichtspunkte. Man hat neuerdings auf eine Herabsetzung des Zinsfußes für Depositen gedrängt, um dadurch den Wettbewerb um die fremden Gelder einzuschränken. Aber es ist ja gar nicht, oder doch nicht allein, die Anziehungskraft des hohen Zinsfußes, worauf das Anwachsen der fremden Gelder bei den Großbanken beruht; wir haben gesehen, daß es sich zu einem sehr erheblichen Teil bei den Depositen nicht um wirkliche Spargelder handelt, sondern um verfügbar zu haltende Mittel von Geschäftsleuten; oft genug auch um Unterlagen für Effekten-Spekulationsgeschäfte. Die Frage der Depositen und der Liquidität ist einmal nicht zu trennen von dem Problem der Kreditgewährung im allgemeinen; alle diese Dinge hängen unmittelbar und eng miteinander zusammen. Gerade weil die Banken berufen waren, die Geldzirkulation durchzuführen und die disponiblen Kapitalien namentlich der Industrie in den verschiedensten Formen wieder zuzuführen, gerade deshalb waren sie genötigt, sich hierbei in erster Linie auf die ihnen zur Verwendung übergebenen fremden Kapitalien zu stützen. Wer also die Entwicklung des Depositenwesens, die Kreditgewährung und Liquidität in unserem Bankwesen angreift, der muß sich klarmachen, daß er in gewissem Sinne unsere ganze wirtschaftliche Entwicklung, auf die wir doch mit Recht stolz sind, verwirft. Bei der Expansion

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 745. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/308&oldid=- (Version vom 20.8.2021)