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Kirchenkörper, an einer stärkeren Zusammenfassung des kirchlichen Protestantismus, und er tut das nicht aus irgendwelchen politisch bestimmten Macht- und Zentralisationsgelüsten, Uniformitätsbestrebungen, Nivellierungsabsichten, sondern aus dem wohlverstandenen und wohlverständlichen innersten Interesse der evangelischen Kirche, in dem Bewußtsein, daß eine freie Zusammenfassung und gemeinsame Vertretung des Protestantismus für die Zukunft eine Lebensfrage der deutschen reformatorischen Kirchen ist. An eine zentralistische Regelung der Bekenntnisfrage denkt niemand und kann niemand denken. Dabei handelt es sich um Entscheidungen, die nur in den einzelnen Kirchen getroffen werden können. Wir werden gleich sehen, wie die Dinge in dieser Beziehung kompliziert liegen. Worum es sich im Gesamtinteresse des evangelischen Kirchentums Deutschlands allerdings handelt, ja in allererster Linie handelt, ist, ob es gelingt, dem trotz aller Bekenntnisdifferenzen im deutschen kirchlichen Protestantismus noch vorhandenen evangelischen Gemeingeist einen Körper zu schaffen, eine Organisation, ein Betätigungsfeld, eine Möglichkeit zu leben, zu erstarken, seine Kraft zu entfalten, seine Aufgabe an unserem Volke zu erfüllen. Das ist es, was unzähliche Freunde der Reformationskirche heiß ersehnen, wofür sie arbeiten und kämpfen. Es handelt sich darum, den inneren Gegensätzen im Protestantismus ein Gegengewicht zu schaffen, damit seine Aktionskraft gegenüber den destruktiven Zeitmächten und der katholischen Machterweiterung nicht neutralisiert werde. Was in Verfolg dieser Ziele von dem Wittenberger Kirchentag (1848) und der Gründung der „Eisenacher Konferenz deutscher evangelischer Kirchenregierungen“ bis zum „Deutschen evangelischen Kirchenausschuß“ auf preußische Anregung hin geschehen ist, sind zwar bis jetzt nur Anfänge, aber doch wichtige Etappen auf dem Wege zu einer das gesamte evangelische Deutschland umfassenden freien kirchlichen Konföderation.

Abschwächung des Gegensatzes gegen die Union.

Gewiß begegnet man in konfessionellen Kreisen auch diesen Bestrebungen noch mit Mißtrauen. Das ist bei der Gründung des Kirchenausschusses sehr deutlich geworden. Aber dieses Mißtrauen beginnt, wenigstens in den maßgebenden Kreisen, zu weichen. Seitdem dieser gegen die Bekenntnisunterschiede neutrale freie Konförderationsgedanke vordringt, tritt die Furcht vor der Union zurück und damit der Gegensatz gegen sie.

Andererseits haben sich nachgerade auch die überzeugtesten Lutheraner – ausgenommen bleiben freilich die Männer des „Lutherischen Bundes“ – durch die Tatsache davon überzeugen lassen, daß unser kirchliches Leben durch schlimmere Feinde bedroht wird, als die „Union“. Bereits der erste Abschnitt dieser Abhandlung hat gezeigt, daß das „Grundübel“ unseres Kirchentums ganz wo anders zu suchen ist als in der Union der lutherischen und reformierten Bekenntnisse. Erst recht wird ein Blick in die inneren Zustände unserer Kirchen beweisen, daß ganz andere Fragen als die Unionsfrage den Bestand der evangelischen Kirche bedrohen. Die Unionsfrage ist tatsächlich durch die innere Entwicklung des Lebens der Kirche überholt. Das führt uns zu dem eigentlichen Thema dieses Abschnittes: der innerkirchlichen Krisis.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 981. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/544&oldid=- (Version vom 20.8.2021)