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indem das Zellengewebe der einen in dem der andern steckt, wie eine Hand im Handschuh. Zu dieser letzteren Art von Chimären gehört auch der Cytisus Adami, d. h. der oben erwähnte Mischling zwischen dem gelbblühenden und dem rotblühenden Goldregen.

Indem Botaniker und Zoologen miteinander wetteiferten, das Gebiet der Fortpflanzung der Organismen und ihrer Abänderung zu neuen Formen und Rassen eingehend zu bearbeiten, stellte sich auch dabei die Übereinstimmung des tierischen und pflanzlichen Lebens in seinen Grunderscheinungen immer mehr heraus, und immer mehr drängte sich das gewaltigste Problem aller Naturwissenschaft in den Vordergrund, was das Leben eigentlich sei, und wie es begriffen werden müsse.

Wesen des Lebens.

Daß sich in der Auffassung des Lebens bereits frühzeitig Parteistandpunkte geltend machten, beweist, daß man an die Lösung dieses Problems vielfach mit dogmatischen Vorurteilen anstatt mit der Methode einer besonnenen Naturforschung herangetreten war, die einfach untersucht und fragt, ganz unbekümmert darum, wie auch die Antwort ausfallen möge.

In dem unsrer Epoche vorausgehenden Zeitabschnitte herrschte die Lehre, daß die Organismen und damit alle Lebenserscheinungen lediglich mechanistisch aufgefaßt und begriffen werden müßten; das will sagen: eine Pflanze oder ein Tier, auch das vollkommenste, ist lediglich ein Mechanismus, eine Maschine, nur von einem so verwickelten Bau der ineinandergreifenden und zusammenwirkenden Teile, daß die wissenschaftliche Analyse dies rein mechanische Getriebe noch nicht zu entwirren und völlig aufzuklären vermochte, wie wir etwa eine Taschenuhr, eine Spieldose oder eine Dampfmaschine zu erklären wissen. In einer noch früheren Zeit glaubte man dagegen, daß eine besondere Lebenskraft in den Organismen wirksam sei, und daß die Äußerungen dieser Kraft, die mit keiner der in der leblosen Natur wirksamen Kräfte übereinstimmen sollte, eben dasjenige darstelle, was wir Leben nennen. Allein diese „Lebenskraft“ geriet nach und nach mit immer mehr allgemeinen Prinzipien der Naturwissenschaft in Widerspruch, so daß man sie fallen lassen mußte, und daß darauf jener Umschwung der Meinungen eintrat, der zu einer völlig entgegengesetzten Auffassung des Lebens führte, zu der Lehre, das Leben sei nur ein verwickelter Sonderfall jenes allgemeinen Naturgeschehens, das in der leblosen Welt herrscht. Man wurde zu dieser Anschauung hauptsächlich durch die Erkenntnis bewegen, daß der Körper der Pflanzen und Tiere zusammengesetzt ist aus chemischen Verbindungen, wie wir sie auch außerhalb des Organismus kennen, und die wir größtenteils künstlich in unseren Laboratorien herstellen können; daß diese Verbindungen aufeinander wirken nach den allgemeinen chemischen Gesetzen; daß es ferner physikalische Kräfte und Prozesse sind, die überall im lebendigen Körper in Wirksamkeit stehen, und daß alle Lebensvorgänge auf einer Grundlage chemischer und physikalischer Erscheinungen ruhen. So machte man die Physiologie, das ist die Lehre von den Lebensvorgängen, zu einer Chemie und Physik des Organismus, wie es z. B. eine Physik der Dampfmaschine und eine Chemie der elektrischen Batterie gibt, welche beide Mechanismen restlos physikalisch und chemisch erklärbar sind. Allein je größer die Fortschritte waren im physiologischen Experiment, je mehr es gelang, unsre chemischen und physikalischen Kenntnisse für die Erklärung von Vorgängen im Organismus zu verwerten, um so mehr drängte sich

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/114&oldid=- (Version vom 20.8.2021)