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Naturalismus.

Auch der Naturalismus, der sich in den 80er und 90er Jahren in Deutschland zur Herrschaft brachte, lebte und zehrte von dem engen Anschluß an die Naturwissenschaft. Des Menschen Leben, Wollen und Handeln wurde unter ihre Gesichtspunkte und damit unter eine äußere und mechanische Gesetzmäßigkeit gestellt. Die Sinne werden von dem empirischen Naturforscher als letzte Instanz der Erkenntnis angesehen – die Triebe und Instinkte wurden entsprechend als letzte Kräfte und Maßstäbe dem Wollen und Handeln zugrunde gelegt. Aufgaben über ihn gab es demnach für den Menschen nicht mehr. Seine Ziele fielen mit seiner Natur, seinem sinnlichen und triebhaften Wesen zusammen. Wie ein ökonomisches Verhältnis zwischen den Begriffen der Wissenschaft und den durch sie auszudrückenden Tatsachen nach positivistischer Theorie besteht, so regelt auch eine ökonomische Beziehung für den Naturalisten die Stellung zur Welt und zu anderen Menschen. Im Zeichen des Nutzens, der Brauchbarkeit für das selbstherrliche Ich hat sich alle Entwickelung danach vollzogen. Wir sind über solche bei Stirner und Nietzsche vertretenen Anschauungen bereits hinausgewachsen. Wir scheuen uns nicht, Ideale anzuerkennen und zu verehren, die nicht von dieser Welt der Sinne und Triebe sind, Natur und Norm zu unterscheiden und uns in den Dienst großer sachlicher Aufgaben und einer umfassenden Gemeinschaft zu stellen. Die Uhr des Naturalismus ist heute abgelaufen, und schon bei Nietzsche finden wir Gedanken, die über sie hinausweisen.

Nietzsche.

Der ursprüngliche Wert, nach dem sich, wie Nietzsche in der letzten Periode seiner schriftstellerischen Arbeit lehrt, alle anderen zu richten haben, ist das Leben, und dieses ist nicht einfach Wille zum Dasein, sondern Wille zur Macht. An dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht mißt sich objektiv allein der Wert eines Zieles, das wir uns setzen. Dabei ist der Wille zur Macht ein ursprünglicher Instinkt, der schon in der Pflanze sich offenbart. Aus seiner Wirksamkeit, aus seiner Geltung ergibt sich Bejahung des Lebens, Steigerung des Lebensgefühls, sieghafte Stimmung, Fortschritt an Kraft und Größe, körperliches und geistiges Wachstum. Nietzsche hat damit das Aktivitätsbewußtsein im Gegensatz zur Entsagung, zur demütigen Ergebung in sein Schicksal, einen Voluntarismus schöpferischer Absicht und Kraft im Gegensatz zu kontemplativer Passivität und unproduktivem Genußleben zum lebendigen Ausdruck gebracht. So ist er Herold und Prophet aller jener Stimmungen und Strömungen geworden, die das neue Deutsche Reich entstehen ließen und durch seine Gründung und Erhaltung entfesselt und stark geworden sind. Nietzsches Dichtung vom Übermenschen ist das hohe Lied auf den kraftvollen, erfolgreichen, in der Gestaltung und Schaffung von Lebenswerten rastlos tätigen, von vollberechtigtem Selbstbewußtsein erfüllten und sich immer zu immer neuen Taten anspornenden und erziehenden Willen. Nach Schopenhauer war dieser die Quelle aller Leiden, und nur in quietistischer Askese konnte Seelenfrieden, Sittlichkeit und Größe erlangt werden. Nach Nietzsche ist der Wille Quelle der größten und wertvollsten Freuden. Nur wer sich seine Stellung in der Welt selbst erobert, wer immer strebend sich bemüht, erringt sich volle Befriedigung. Folgte der Pessimismus aus dem Schopenhauerschen, so folgt der Optimismus

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/27&oldid=- (Version vom 14.3.2019)