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Zeitroman. Neuromantisches steht neben Naturalistischem, Brüchiges neben Gesundem und in sich Geschlossenem; verwickelte Seelenzustände treten besonders hervor, die meist mit Zerschlagen des morschen Gehäuses eines verfehlten Lebens endigen und ein Sichverzehren in Sehnsüchten, in Erdenjammer; kaum einer stellt dies erschüttender dar als der Schlesier Stehr; mit dem Problem ringen auch Wassermann, Martens u.a. Auf den Grund der Herzen sieht in den Gestalten auf Herrenhöfen und Dorfpfarren kaum ein Dichter schärfer als Eduard v. Keyserling, und doch zittert durch Melancholie und Skepsis ein gütevolles Herz hindurch. Mit ihren Problemen und Aufgaben und Kämpfen begegnen uns alle Stände: der Adel und der Offizier bei v. Ompteda und v. Polenz, der Land- und Zuchthauspfarrer bei Hegeler, Philippi, Brausewetter, der Oberlehrer bei Arminius, in Verzerrung bei H. Mann, der Kaufmann bei Th. Mann und G. Frenssen, der Fabrikant bei Rud. Herzog, der Ingenieur und Techniker bei Max v. Eyth und Hegeler, der Gegensatz zwischen alter und neuer Zeit, Vater und Hohn, bei Max Dauthendey; der Kampf zwischen Landwirtschaft und Industrie, die soziale Tragödie des Bauernstandes, der jahrhundertelang die stärkste Wurzel unserer Voltskraft war, das langsame Gleiten nach unanfechtbaren wirtschaftlichen Fallgesetzen, nach kalter, mitleidloser Logik der Tatsachen ist der erschütternde Gegenstand vieler Romane, bei v. Polenz, Rosegger, Wilh. Fischer, Klara Viebig u. v. a.

Entwicklungsroman.

In der Epoche, wo Realismus und Darwinismus vorwalten, im „Zeitalter des Kindes“, in dem die Entwickelung zur Persönlichkeit von Nietzsche und Langbehn („Rembrandt als Erzieher“) als höchstes Ziel des Menschentums verherrlicht wurde, nimmt „die Geschichte einer Jugend“ einen breiten Raum ein; Frenssens „Jörn Uhl“ wurde das gelesenste Buch der Zeit, nicht etwa wegen künstlerischer Geschlossenheit, sondern wegen der außerordentlichen Sprach- und Bildgewalt und dem ehrlichen Ringen mit Gott und Welt, das den Dichter noch heute ziert und noch schöne reife Früchte verheißt; durch lyrische Süße und Schönheit bezauberte Hermann Hesses „Peter Camenzind“; ihm folgten Asmus Semper, Roman Werner, Gottfried Kämpfer, Daniel Junt, Peter Michel, Krauskopf, Hann Klüth, Piddil Hundertmark u. a. Von den zartorganisierten, zum Träumen, nicht zur Arbeit und Sammlung geneigten Seelen wird der Schuldrill als Folter empfunden („Freund Hein“, „Buddenbrooks“, „Unterm Rad“). Dagegen führt uns in das „selige Kinderland“ Helene Voigt-Diederichs, doch nicht minder in das schwere Irren und Ringen des Frauenherzens, und Lou Andreas-Salomé und Gabriele Reuter zeichnen die Entwicklung eines neuen Weibestypus. Abgründe des Lebens in Klein- und Großstadt taten sich in den „Tagebüchern“ einer Verlorenen und einer deutschen Schauspielerin auf. Ins Verbrechertum leuchtete Wilh. Speck, in die Zuchthauszelle Fritz Philippi hinein.

Dorf- und Kleinstadtroman.

Vor allem aber wuchert in üppiger Fülle in Nord und Süd der Bauern- und Dorf- und Kleinstadtroman. Seine Wurzeln sind mannigfacher Art. Die Naturliebe ist die anmutigste Geistesblüte unserer Zeit; sie tut sich nicht nur im Leben, in Wandern und Wintersport,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/421&oldid=- (Version vom 11.5.2019)