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Aktdarstellung.

Bei der Nacktkunst, der edelsten Aufgabe des Bildhauers, setzten die Gegner dieser barockimpressionistischen Bildhauerei am schärfsten ein. Es sind zunächst die Neoklassizisten. Sie wollen – wenigstens grundsätzlich – von der Gedankenkunst nichts wissen und einzig unmittelbar empfangenen Formvorstellungen folgen. Sie streben, obwohl sie sich nicht völlig von der Antike bzw. dem italienischen Quattrocento zu befreien vermögen, einer erhöhten Gattung Mensch in der Nacktkunst mit neuzeitlichem Gepräge in der äußeren Erscheinung und einer im engeren Sinne des Wortes plastischen Vorstellung erfolgreich zu. Sie bekennen als ihr Programm, daß sie sich nicht mit einem Modell begnügen, sondern künstlerische Eindrücke überall suchen, um sie in einem Werke verdichtet darzustellen. Von besonderem Einfluß wurde es, daß die Künstler wieder begannen, die Figur selbst aus dem festen Stoff herauszuholen, sie von dem Stein zu befreien, denn durch das Fortnehmen der Materie wird die innere Vorstellungs- und damit auch die Gestaltungskraft unablässig und energisch angeregt wie gestrafft. Der Block, der jetzt vom Bildner respektiert werden muß, zwingt zu einem Zusammenraffen der Körperformen. Dadurch entsteht nicht selten eine etwas gezwungene Haltung der Figuren, die aber, wie seinerzeit in der Renaissance, hoffentlich nur ein Übergang zu dem Grundsatz ist, möglichst viel Leben auf möglichst geringem Raum darzustellen. Man gelangt mit alledem, allgemein gesprochen, von der individuell-realistischen zu der stilistisch-tektonischen Auffassung. Diese fast architektonisch geregelte Melodik einer klaren Gesichtsvorstellung in den Werken der Neoklassizisten suchte auch Fühlung mit der Farbenfreudigkeit der Zeit entweder durch eine realistische Bemalung oder durch eine farbige Tönung, endlich sogar durch die Verbindung verschiedenartiger Materialien zu einer farbigen Wirkung. Auch in das gleitende, schimmernde Licht der umhüllenden Atmosphäre hofften die Bildner, durch feinste Meißelschläge, durch Polieren ihre Werke sich einschmiegen zu sehen. Diese Bemühungen um Farbe und Licht sind allerdings ziemlich vereinzelt geblieben. Bei der weiteren Entwicklung zur stilistisch-tektonischen Behandlung spielt in der Bildhauerei die angewandte Kunst eine ähnliche Rolle wie die Lithographie in der Malerei.

Angewandte Kunst und Sport.

Das Kunstgewerbe zwingt den Zweck des Gegenstandes voranzustellen, damit tritt unwillkürlich ein architektonischer Formenwert hervor, gleichzeitig soll jener aber einem persönlichen Bedürfnis entsprechen und einen angemessenen Schmuck erhalten. Wegen der allgemeinen Beziehung des kunstgewerblichen Erzeugnisses zum täglichen Leben bevorzugt man vielfach als Dekor die nackte oder nur ganz dünn bekleidete menschliche Gestalt im Hinblick auf ihre volle, energisch gegliederte Form und die fließenden, aber wiederum bestimmt akzentuierten Linien. Da nun alle Plastik von der angeschauten Nacktkunst in erster Linie abhängig ist, so wurde diese Art der Verwendung der Kleinplastik im Alltage von erheblichem Werte für eine weitgreifende, verständnisvolle Anteilnahme an der Nacktkunst.

Es dürfte ferner richtig sein, wenn man eine der Wurzeln dieser gemessenen, neoklassizistischen Kunst in einem, natürlich unbeabsichtigten, Widerstreit gegen das unruhige Großstadtleben, das unsere Zeit kennzeichnet, findet. Weit höher ist für die Entfaltung dieser Art der Bildhauerei, ja der Plastik überhaupt, die in ganz Deutschland wachsende

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/462&oldid=- (Version vom 28.9.2022)