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somit der Zentralisation, der Obrigkeit und der autoritären Macht ausgesprochen ist. Erst die Durchsetzung des Klassenkampfgedankens mit marxistischen Lehrmeinungen brachte zugleich die Klasseneinigung wie den Internationalismus der Arbeiter zum Zerfallen. Unter dem Einfluß des Marxismus schufen sich die Arbeiter zentralistische Partei- und Gewerkschaftsorganisationen, bevollmächtigten Beamte zur Wahrnehmung der Arbeiterinteressen, womit sie also ihren Befreiungskampf in die Hände übergeordneter Vertreter legten, beteiligten sich an den Wahlen zu den staatlichen Parlamenten, so daß der Staat mit seinen nationalen Grenzen für sie wieder gegenständliche Bedeutung erhielt und ließen sich sogar für den staatlich verwalteten Sozialismus einfangen. So ist der Arbeiter zum Staatsbürger geworden, und sein Kampf gegen die Ausbeutung zerschellt an dem Widerspruch, daß er den die Ausbeutung bedingenden öffentlichen Apparat stützt und stärkt.

Die besondere Taktik der Anarchisten gegenüber den Marxisten in allen Einzelheiten darzustellen, ist hier nicht der Ort, da diese Seiten nur einen allgemeinen Ueberblick über das Wesen des Anarchismus umreißen sollen. Die Führung des Klassenkampfes unter anarchistischen Gesichtspunkten bedarf aber nur der Anwendung der anarchistischen Gesinnung, um ihm die Aussicht auf die Befreiung des Proletariats zu sichern. Zur organisatorischen Zusammenfassung besteht für kommunistische Anarchisten weder eine Verpflichtung, noch ist die Idee des Anarchismus mit der Schaffung einer Organisation unverträglich. Nur wäre die Bildung zentralistischer Vereinigungen und bürokratisch geleiteter Zusammenschlüsse im Widerspruch zu der Grundlehre des Anarchismus, daß nur da gesellschaftliches Leben ist, wo jeder Persönlichkeit der willensbewußte Einfluß auf alle Festlegungen und Unternehmungen zusteht. Die Führung des Klassenkampfes in eigenen Gewerkschaften, wie ihn die anarcho-syndikalistische Bewegung betreibt, ist vom Standpunkte des freiheitlichen Sozialismus völlig unangreifbar, und nicht derjenige verletzt anarchistische Grundsätze, der sich mit gleichstrebenden Genossen in wirtschaftlichen Kampfverbänden zusammenschließt, sondern derjenige, der föderalistisch aufgebaute Berufs- oder Betriebsorganisationen angreift, weil er selbst aus noch so wohlerwogenen Gründen ihnen nicht beitreten mag. Hierin gerade ruht die Kraft des föderalistischen Gedankens, daß niemand gehalten ist, sich einem Programm unterzuordnen, das er nicht selbst mit aufgestellt hat und dem er nicht in allen Punkten zustimmt. Der beliebte marxistische Angriff auf die Anarchisten, bei ihnen gäbe es Dutzende von verschiedenen Richtungen und Ansichten, schlägt nicht allein deshalb fehl, weil auch der Marxismus sich in zahllose Gruppen spaltet, sondern vor allem, weil ein kameradschaftliches Nebeneinander erst dadurch ermöglicht wird, daß jeder Meinung die Art ihrer Vertretung und die Form ihres Kampfes völlig freigestellt bleibt, ohne daß deswegen Streit und Vorrangsanspruch entstehen müßte. Die zentralen Bürokratien der marxistischen Gruppen müssen trotz ihrer nahen Verwandtschaft in allen politischen und allgemeinen Anschauungen erbittert gegeneinander kämpfen, weil gegenseitige Duldsamkeit immer der Autorität Abbruch tut, und weil jede Abgrenzung von Herrschbereichen notwendig feindselige Abgrenzung bedeutet. Föderalistische Gruppenbildungen hingegen fördern die nachbarliche Eintracht, indem sie freundschaftliche Trennungen bewirken, wo keine Uebereinstimmung vorhanden ist, was das Zusammengehen in den übrigen Angelegenheiten um so ersprießlicher macht. Wenn hier und dort auch zwischen benachbarten anarchistischen Vereinigungen Unverträglichkeit und Ränkesucht vorkommt, so ist das keine Widerlegung der Föderation, es ist nur ein Beweis dafür, daß die Ueberlieferung des Zentralismus, des Machtgelüstes, der Unduldsamkeit ihre Krallen noch nicht überall von den Geistern selbst solcher Menschen gelöst hat, die mit dem Verstande die Vorteile des Föderalismus begriffen haben.

Die von unten aufgebaute Organisation führt Personen zu Bünden zusammen, oft die gleichen Personen zu verschiedenartiger Verbündung. Man organisiert sich unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Zusammengehörigkeit nach Gesinnung, Aufgaben und Oertlichkeit. Die Gesinnungsgenossen, die zu gemeinsamer Tätigkeit Verbundenen, die in Häusern, Straßen, Gemeinden, Städten auf gleichmäßige Bedingungen Angewiesenen halten bei völliger Selbständigkeit in allen Entschlüssen gute Fühlung zu Bünden ähnlicher Beschaffenheit. Es findet dauernde gemeinsame Beratung in betrieblichen, beruflichen, weltanschaulichen Dingen statt, der Grundsatz der gegenseitigen Unterstützung ist für alle gemeinschaftlichen Maßnahmen verbindlich, ohne der Selbstverantwortung jeder Persönlichkeit und jeder Gruppe Abbruch

Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/31&oldid=- (Version vom 31.7.2018)