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zu tun. Es entsteht ein netzartiges Gewebe bis ins Einzelglied selbständiger, einander wechselseitig durchwirkender Arbeits-, Gesinnungs- und Nachbarsbünde, deren Einfluß- und Raumgebiet von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf, von Bezirk zu Bezirk, von Provinz zu Provinz, von Land zu Land, oder auch von Werkstatt zu Werkstatt, von Betrieb zu Betrieb, von Industrie zu Industrie, kurz in jeder wirtschaftlichen und geistigen Beziehung von Mensch zu Volk und Gesellschaft ausgreift und in lebendiger Gemeinschaft alle Beteiligten allen anderen Beteiligten kameradschaftlich zuteilt. Die anarchistische Organisation hat stets so auszusehen, daß sie im Kleinen das Bild der erstrebten freiheitlichen Gesellschaftsorganisation vorführt.

Ebenso wie bei der Gestaltung der Organisationsformen gilt auch für das gesamte übrige Verhalten der Anarchisten die allgemeine Regel: der Weg zum vorgesteckten Ziel soll geradeaus führen, das heißt, es soll kein Umweg benutzt werden, bei dem das Ziel je aus den Augen verloren werden kann. Schon beim ersten vorbereitenden Schritt und weiterhin ohne Unterbrechung bis zum Ausbruch der sozialen Revolution und in allen Entwicklungsstufen beim Aufbau der freien kommunistischen Gesellschaft haben für die Anarchisten die leitenden Grundlehren der Gleichberechtigung, der Selbstverantwortung, der sozialen Gerechtigkeit, des Föderalismus und der vollständigen Freiwilligkeit im Wollen und Handeln das Vorgehen zu bestimmen. Alles Tun ist aufs Letzte und aufs Ganze gerichtet; jede Maßnahme erfolgt in der Erkenntnis, daß Persönlichkeit und Gesellschaft eine materielle und sittliche Einheit ist; der einzelne Anarchist, der anarchistische Bund, der Bund anarchistischer Bünde richtet in Werbung, Erziehung, in Kampf und Benehmen seinen ganzen Willen auf die Verwirklichung der staatlosen sozialistischen Freiheit, schaltet Nebenzwecke aus und lebt im verpflichtenden Bewußtsein, durch sein Beispiel in der Gegenwart die Möglichkeit eines freiheitlichen und gerechten Lebens der künftigen Menschheit zu beweisen.

Aus dieser allgemeinen Regel ergibt sich das Verhalten der Anarchisten in der Politik von selbst. Die Behauptung, die Anarchisten verneinten den politischen Kampf überhaupt, ist eine törichte, durch nichts gerechtfertigte Unterstellung. Politik ist Beschäftigung mit den öffentlichen Dingen. Der Vorsatz, die öffentlichen Dinge zu ändern, ist also allein schon und erst recht in Verbindung mit der planmäßigen Verfolgung dieses Vorsatzes, Bestandteil der Politik. Es handelt sich hier um eine marxistische Verdächtigung, um den Anarchismus wegen seiner Ablehnung einer Politik, die den Sozialismus auf dem Wege der Teilnahme an der Verwaltung des Staates herbeiführen möchte, als unkämpferisch oder kampfunfähig erscheinen zu lassen. Die anarchistische Formel für den politischen Kampf war von jeher: Ablehnung jeder Politik, die nicht unmittelbar und direkt die Befreiung der Arbeiterklasse zum Ziele hat. Damit ist klar ausgedrückt, daß gerade die marxistische Politik der parlamentarischen Tätigkeit in den vom Kapital eingerichteten staatlichen Machtorganen von den Anarchisten als kampfhemmend angesehen wird, da sie nicht nur die Abgeordneten von ihrer Klasse loslöst und zur Oberschicht macht, sondern noch dazu den staatlichen Verwaltungsorganen den belebenden Auftrieb einer Opposition schafft, keinerlei Nutzen für das werktätige Volk im Sinne sozialistischer Förderung bewirken kann und die Proletariermassen mit der Einbildung füttert, die Uebertragung ihrer Initiative auf mit weitreichenden Vollmachten versehene Vertreter ersetze den notwendigen selbstverantwortlichen Kampf der Arbeiterklasse selbst. Gar nicht davon zu reden, daß die Abordnung von Parlamentariern, Regierungsorganen, Stadträten, Staatsbeamten die Autorität jeder zentralen Obrigkeit befestigt und den Machtgedanken im Proletariat ungeheuer stärkt. Die Anarchisten verweigern dem Staat jede Art Hilfe. Ihre Politik erschöpft sich im Einsatz jedes einzelnen Individuums und aller autoritätsfeindlichen Vereinigungen zum unmittelbaren, auf das Ziel gerichteten Kampf gegen den Staat, gegen die staatlichen Einrichtungen und gegen alle zentralen Machtgebilde.

Damit beschränkt der Anarchismus nicht etwa seine Kampfmittel; er scheidet nur aus ihnen die Waffen aus, die er als stumpf erkannt hat. Die sich aus der anarchistischen Weltanschauung von selbst empfehlende Kampfesweise ist die des unmittelbaren Eingreifens. Da die Macht des Kapitalismus in der Produktionsweise und den Eigentumsrechten der bestehenden Gesellschaft gipfelt, bevorzugt die anarchistische Lehre den politischen Kampf in wirtschaftlichen Formen. Der vereinigte Wille der Menschen, deren Hände die Hebel der Maschinen bewegen, ist imstande den gesamten kapitalistischen Apparat stillzulegen. Der Streik, die Unmöglichmachung der Arbeit

Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/32&oldid=- (Version vom 31.7.2018)