selbst im vorbildlichsten Falle niemals den Träumen ihrer Vorkämpfer. Es muß daher genügen, für das Verstehen einer freiheitlichen Ordnung in der kommunistischen Anarchie die wichtigsten Grundbedingungen des Rätewesens gegenwärtig zu haben. Die Zusammensetzung der Räte geschieht nach den natürlichen Arbeits- und Lebensbeziehungen. Der Arbeiterrat einer industriellen Anlage, der zunächst wesenseins ist mit der Gesamtbelegschaft, regelt im Werk selbst die Verteilung der Pflichten nach der Art der Beschäftigung, berücksichtigt aber im Falle etwa der Beschlußfassung über einen Anbau die Wünsche und Bedenken aller verschiedenen Tätigkeitsgattungen, die mit dem Betriebe unmittelbar oder mittelbar verbunden sind. Es hätte also ein Betriebsrat sich zu bilden, dem Vertreter aller Abteilungen des Werkes, der Handarbeiter und der Buchhalter, der Pförtner und der Fenster- und Treppenreiniger anzugehören hätten, dazu Bautechniker und Maurer, Arbeiter von Werken, die mit dem betreffenden Betrieb in ständiger Verbindung stehen, gesundheitliche Gutachter, Frauen und Mädchen, die irgendwie besondere Interessen an dieser oder jener Festsetzung haben können, Vertreter der Gemeinde, in deren Bezirk der Bau entstehen soll, und wer sonst Anlaß haben möchte, die Sache der Seinen bei dem Plan zu verfechten oder seinem Rat nutzbar zu machen. In Angelegenheiten eines Krankenhauses haben billigerweise mitzureden Aerzte und Pflegepersonal, Hausbetreuer und Leichenbesorger, Kranke und deren Angehörige, Architekten und Handwerker. Die Anlage einer Landstraße geht die Anrainer an, die Nachbargemeinden, alle die Vorteil von dem Bau erhoffen und die Schaden von ihm befürchten, ferner Ingenieure, Arbeiter, Geometer, Elektrizitäts- und Wasserbautechniker, alle, die am Entwurf und an der Ausführung beteiligt sind, alle, die die örtlichen Verhältnisse beurteilen können, alle, die die Straße begehen und befahren werden. Hier bildet sich ein Rat aus Vertrauenspersonen aller dieser Interessierten, nur für den besonderen Zweck, unter ständiger Kontrolle arbeitend, jeder einzeln, gruppenweise oder im ganzen von den Interessierten jederzeit abberufbar und ersetzbar. Es scheint nicht nötig, weitere Beispiele einer solchen Gestaltung der öffentlichen Dinge vorzuführen. Jeder vermag selbst, dieses Verfahren der Beteiligung aller an allem in der Anwendung auf sämtliche gesellschaftliche Notwendigkeiten weiterzudenken und einzusehen, daß bei freiheitlichem Willen dies in der Tat das System ist, um die Ackerbestellung und den Warenaustausch, die Angelegenheiten des Verkehrs und die der Geistespflege im engen Kreise wie in weitem Umfange, von der Verständigung einiger Nachbarn bis zur Weltföderation in Gang zu halten und jeden zum Sachwalter aller, alle zu Sachwaltern jedes einzelnen zu machen bei voller Gleichberechtigung, bei voller Freiwilligkeit, ohne Vorrang und Macht.
Hat man das Wesen der Räte so als den Inbegriff des lebendigen Zusammenklangs von Persönlichkeit und Gesellschaft begriffen, dann verliert die Frage, ob die Forderung: Alle Macht den Räten! von Anarchisten erhoben werden dürfe, jeden Inhalt. Vielleicht ist es nicht günstig, das Wort Macht in irgendeinem Zusammenhange anzuwenden. Doch ist diese Forderung ja gerade in der Bedeutung entstanden, daß jede Staatsmacht gebrochen werden soll, daß alle bestimmende und ausführende Gewalt von der Revolution, also von der revolutionären Klasse, von der Arbeiter- und Bauernschaft, und von deren revolutionären Organen, den Räten, die wiederum die Gesamtheit der Werktätigen verkörpern, übernommen werden soll. Mit dem Lebendigwerden des Sozialismus schwinden die Klassen, und der Zwang der Revolution gegen die ihr widerstrebenden Gegenrevolutionäre der besiegten Klasse vermindert sich stufenweise fortschreitend bis zur völligen Rechtsgleichheit aller und ihrem Zusammenwirken in den Räten. Die Macht aller, ohne Unterschied an der Aufrichtung der staatlosen kommunistischen Gesellschaft Schaffenden, und dies wäre eben die Rätemacht, ist natürlich keine Macht mehr, da niemand da ist, über den sie geübt würde. Die Losung ist immerhin besser als die der proletarischen Diktatur, obwohl beide dahin gedeutet werden können, daß die proletarische Klasse im revolutionären Kampf keine Einwirkung kapitalistischer Kräfte auf das öffentliche Geschehen dulden wird. Da das Bekenntnis zur Diktatur des Proletariates aber das unterscheidende Merkmal aller Staatssozialisten geworden ist, die auch praktisch die Herrschgewalt eines Parteiklüngels daraus gemacht haben, und da die Losung „Alle Macht den Räten!“ nur noch von autoritätsfeindlichen Sozialisten ausgegeben wird, ist die Sorge, hier solle die gestürzte Macht durch eine neue Macht ersetzt werden, überflüssig. Doch wäre es, um jede verwirrende Deutung auszuschließen, geraten, die Anarchisten einigten sich auf die Losung „Alles Recht den Räten!“ – oder auch Alles den Räten, alles durch die Räte, oder, was wiederum dasselbe ist: „Alles für alle durch alle!“
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/43&oldid=- (Version vom 31.7.2018)