Anonym: Edda | |
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Gudrun saß über dem todten Sigurd; sie weinte nicht wie andere Frauen, aber schier wäre sie vor Leid zersprungen. Auch traten Frauen und Männer hinzu sie zu trösten; aber das war nicht leicht. Es wird gesagt, Gudrun habe etwas gegeßen von Fafnirs Herzen und seitdem der Vögel Stimmen verstanden. Auch dieß wird von Gudrun gesagt:
Da sie sorgend saß über Sigurden.
Nicht schluchzte sie, noch schlug sie die Hände,
Brach nicht in Klagen aus wie Brauch ist der Frauen.
Das lastende Leid ihr zu lindern bedacht.
Doch Gudrun konnte vor Gram nicht weinen,
Schier zersprungen wäre sie vor Schmerz.
Goldgeschmückte, Gudrun zur Seite.
Eine Jede sagte von ihrem Jammer,
Dem traurigsten, den sie ertragen hatte.
„Mich acht ich auf Erden die Unseligste.
Der Männer verlor ich nicht minder als fünf,
Der Töchter zwei und drei der Schwestern,
Acht Brüder; ich allein lebe.“
So trug sie Trauer um den Tod des Gemahls,
So füllte sie Grimm um des Fürsten Mord.
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/211&oldid=- (Version vom 31.7.2018)