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Anonym: Edda

29. Gudhrûnarkvidha fyrsta.
Das erste Gudrunenlied.

Gudrun saß über dem todten Sigurd; sie weinte nicht wie andere Frauen, aber schier wäre sie vor Leid zersprungen. Auch traten Frauen und Männer hinzu sie zu trösten; aber das war nicht leicht. Es wird gesagt, Gudrun habe etwas gegeßen von Fafnirs Herzen und seitdem der Vögel Stimmen verstanden. Auch dieß wird von Gudrun gesagt:


1
Einst ergings, daß Gudrun   zu sterben begehrte,

Da sie sorgend saß   über Sigurden.
Nicht schluchzte sie,   noch schlug sie die Hände,
Brach nicht in Klagen aus   wie Brauch ist der Frauen.

2
Ihr nahten Helden,   höfische Männer,

Das lastende Leid   ihr zu lindern bedacht.
Doch Gudrun konnte   vor Gram nicht weinen,
Schier zersprungen   wäre sie vor Schmerz.

3
Herliche Frauen   der Helden saßen,

Goldgeschmückte,   Gudrun zur Seite.
Eine Jede sagte   von ihrem Jammer,
Dem traurigsten, den sie   ertragen hatte.

4
Da sprach Giaflög,   Giukis Schwester:

„Mich acht ich auf Erden   die Unseligste.
Der Männer verlor ich   nicht minder als fünf,
Der Töchter zwei   und drei der Schwestern,
Acht Brüder;   ich allein lebe.“

5
Doch Gudrun konnte   vor Gram nicht weinen,

So trug sie Trauer   um den Tod des Gemahls,
So füllte sie Grimm   um des Fürsten Mord.

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/211&oldid=- (Version vom 31.7.2018)