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Anonym: Edda

6
Da sprach Herborg,   die Hunenkönigin:

„Ich habe von herberm   Harm zu sagen:
Sieben Söhne sind   im südlichen Land
Und mein Mann der achte   mir erschlagen.

7
„Über Vater und Mutter   und vier Brüder

Haben Wind   und Wellen gespielt:
Die Brandung zerbrach   die Borddielen.

8
„Selbst die Bestattung   besorgen must ich,

Die Holzhürde selber zur   Helfahrt schlichten.
Das Alles litt ich   in Einem Halbjahr,
Und Niemand tröstete   in der Trauer mich.

9
„Dann kam ich in Haft   als Heergefangne

Noch vor dem Schluß   desselben Halbjahrs.
Da besorgt ich den Schmuck   und die Schuhe band ich
Alle Morgen   der Gemahlin des Hersen.

10
„Sie drohte mir immer   aus Eifersucht,

Wozu sie mit harten   Hieben mich schlug.
Niemals fand ich   so freundlichen Herrn,
Aber auch nirgend   so neidische Herrin.“

11
Doch Gudrun konnte   vor Gram nicht weinen,

So trug sie Trauer   um den Tod des Gemahls,
So füllte sie Grimm   um des Fürsten Mord.

12
Da sprach Gullrönd,   Giukis Tochter:

„Wenig weist du, Pflegerin,   ob weise sonst,
Das Herz einer jungen   Frau zu erheitern.
Weshalb verhüllt ihr   des Helden Leiche?“

13
Sie schwang den Schleier   von Sigurd nieder,

Und wandte ihm die Wange   zu des Weibes Schooß.
„Nun schau den Geliebten,   füge den Mund zur Lippe
Und umhals ihn wie einst   den heilen König.“

14
Auf sah Gudrun   einmal nur,

Sah des Helden Haar   erharscht vom Blute,
Die leuchtenden Augen   erloschen dem Fürsten,
Vom Schwert durchbohrt   die Brust des Königs.

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/212&oldid=- (Version vom 31.7.2018)