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Anonym: Edda

39
Die Sonne sah ich,   das schöne Tagsgestirn,

Sinken in die Welt des Schreiens,
Und der Hölle Gitter   hört ich mir zur Linken
Schaurig erschallen.

40
Die Sonne sah ich   blutroth scheinen,

Wie ich von der Welt mich wandte;
Doch heller schien sie mir   und herlicher
Als ich sie noch je gesehen.

41
Die Sonne sah ich,   sie war so schön

Als säh ich Gott den Schöpfer selbst.
Ich neigte der herlichen   heut zum letzten Mal
In dieser Welt des Wehs.

42
Die Sonne sah ich,   so war ihr Glanz

Daß sonst mir nichts bewust mehr war.
Die Höllenflüße   hallten zur Linken mir
Gemischt mit manches Menschen Blut.

43
Die Sonne sah ich   bebenden Angesichts,

Der Schrecken voll und Schmerzen,
Denn mein Herz,   das hart bedrängte,
Zerging in Angst und Ohnmacht.

44
Die Sonne sah ich   noch selten verzagter;

Ich war der Welt schier halb entwandt;
Die Zunge stand mir   starr im Munde,
So fühlt’ ich sie von Frost erfaßt.

45
Die Sonne sollt ich   nicht wiedersehn

Nach jenem trüben Tage;
Der blaue Himmel   verbarg sich mir,
In Schmerzen entschwand die Besinnung.

46
Der Stern der Hoffnung (die Seele) in der Stunde der Neugeburt

Entflog der bangen Brust.
Er schwang sich hoch empor   und setzte sich nirgends,
Daß er zur Ruhe kommen konnte.

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/333&oldid=- (Version vom 31.7.2018)