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Anonym: Edda

Bekannt sind die nordischen Walen oder Wölen, zauberhafte Wahrsagerinnen, wie jene höhlenbewohnende des Hyndluliedes, das auch die kleinere Wöluspa heißt, oder wie die Veleda des Tacitus, die vom hohen Thurm die Geschicke der Völker lenkte, bei denen sie fast abgöttischer Verehrung genoß. Man dachte die Wölen das Land durchziehend, von Haus zu Haus an die Thüren klopfend (St. 26. Ögisdr. 24), wohl um den Menschen, besonders neugebornen, zu weißagen, ihr Schicksal anzuzeigen, vielleicht gar wie die Nornen, mit welchen sie sich berühren, selbst zu schaffen und zu bestimmen. Kommt ihr Name von at velja (wählen), so scheinen sie selbst den Walküren verwandt, mit denen sie Str. 24. 25. 26. zusammengestellt werden. Über die Form des Namens völva sagt Grimm Myth. 87: „Entweder steht hier völu für völvu, oder es läßt sich die ältere Form vala (gen. völu) behaupten; beiden würde ein ahd. Walawa oder Wala entsprechen.“

Der Name Wöluspa ist nicht leicht wiederzugeben. Wörtlich heißt es nur die Rede, das Gesicht der Wöle oder Wala, dem Sinne nach nicht sowohl dieß als Offenbarung der Seherin, denn nicht die Zukunft allein verkündet sie: auch in die Vergangenheit ist ihr der Blick geschärft, der Schleier gelüftet von den geheimnissvollen Ursprüngen der Dinge. Sie hat die ersten Geschicke der Welt von ihren Erziehern, den urgebornen Riesen (Str. 2) erfahren und weiß in allen neun Himmeln oder Welten Bescheid. Aber Vergangenheit und Zukunft berühren sich im Kreißlauf der Dinge: nach dem Weltuntergange taucht die Erde zum andernmal aus dem Waßer auf (Str. 57), dann werden die wundersamen goldenen Scheiben, mit denen die Götter in der Zeit ihrer Unschuld spielten (Str. 4. 8), sich im Grase wiederfinden (Str. 59), und das goldene Zeitalter zurückkehren, das durch die Gier des Goldes verloren ging. Was zwischen diesen äußersten Enden in der Mitte liegt, wird uns nicht verschwiegen: der Verlust der ersten Unschuld mit dem Beginn der Zeit, da die drei Thursentöchter aus Riesenheim kamen (Str. 8.), die Schöpfung der erzschürfenden Zwerge und der Menschen (Str. 9–18) und der erste durch die Bereitung des Goldes herbeigeführte Mord (Str. 25), der Treubruch der Asen (Str. 28–30) und das herannahende Verderben durch die Erziehung der beiden Wölfe, die als Fenrirs Geschlecht Sonne und Mond zu verschlingen bestimmt sind, und die nun das Blut mästet, das im ungerechten widernatürlichen Kriege vergoßen wird (Str. 32), Baldurs beunruhigende Träume und ihre Erfüllung (Str. 36. 37), die Vorkehrungen der Götter in Lokis und Fenrirs Feßelung (Str. 38. 39), wobei sie aber die in Str. 32 gedachten Wölfe,

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/361&oldid=- (Version vom 31.7.2018)