Anonym: Edda | |
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mehr als eine alliterierende Langzeile. Unter den uns erhaltenen ist keiner, der mit dem Namen einer Rune begänne, wenn nicht etwa die angelsächsische Rune ear (Wilh. Gr. 233) die Erde bedeutete, in welchem Falle der Segensspruch Gr. Myth. 1186 mit ihr anheben könnte. Jedenfalls erklärt sich der Name der Stäbe für die reimenden Anfangsbuchstaben der Lieder nur aus dem angenommenen Verhältniss derselben zu den aus den Stäben (Tac. c. 10) eingeritzten Runenzeichen, so daß noch unsere Buchstaben von dem alten Zusammenhang der Dichtkunst mit Weißagung und Gottesdienst, mit Opfer- und Zaubergebräuchen Zeugniss geben. Auf gottesdienstliche Verrichtungen geht auch wirklich Einzelnes in den Str. 145. 146, die wir sonst unerläutert laßen. Vgl. übrigens v. Lilienkron und Müllenhoff Zur Runenlehre 1852, wo S. 19 ausgeführt wird, wie die eingeritzte Rune an sich todt war und erst durch das dazu gesungene Lied, welchem dieselbe Rune zu Stäben diente, Leben und zauberkräftige Wirkung empfing. Darnach wären Str. 140 die Runenzeichen selbst gemeint, Str. 141 aber unter dem Trunke Meth, aus Odhrörir geschöpft – einer gewöhnlichen dichterischen Umschreibung gemäß – die Poesie: das zu dem eingeritzten Stab gesungene mit demselben Stab als Liedstäben versehene Runenlied. Der Sinn ist also, daß Odhin die Runenzeichen mit den dazu gehörenden Versen oder Sprüchen erfand. In gleichem Sinn heißt es Sigrdrifumal Str. 18, die Runen seien „mit hehrem Meth geheiligt und gesandt auf weite Wege;“ d. h. wiederum „mit dem Zeichen ist der Vers verbunden und dadurch die Zauberkraft des Zeichens geweckt.“ Der Gewinn aber, welcher sich für die Erklärung eines der beiden Merseburger Heilsprüche aus unserer Str. 150 vgl. mit Grogaldr 10 schöpfen läßt, bleibt noch zweifelhaft. Der erste derselben nämlich, welchen man von den darin erwähnten Göttinnen Idisi zu nennen pflegt, ist nach Andern ein solches Runenlied wie das hier gemeinte, dessen Zauberkraft die Feßeln der Gefangenen zu sprengen vermag, während wir den Spruch nur für einen Segen halten, der über den ausziehenden Krieger gesprochen wird um ihn vor längerer Gefangenschaft zu bewahren. Vielleicht läßt sich aber 157 zur Erklärung von Tac. Germ. c. 3. verwenden, der bekannten Stelle über die in den Schild (nord. bardhi) gesungenen Lieder (barditus), welche Klopstock auf die undeutschen Barden bezog und in seinen Bardieten nachahmen wollte. Den Gebrauch dieser Lieder zur Weißagung erkannte Tacitus selbst, indem er berichtet, man habe aus ihrem stärkern oder schwächern Erklingen den Ausgang der Schlacht, Sieg oder Niederlage, vorher verkündigt. Ihre zauberhafte Wirkung, dem Glauben der Germanen
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/391&oldid=- (Version vom 31.7.2018)