Anonym: Edda | |
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daß das Gedicht kurz vor seinem Schluße abbricht. Auch innerhalb finden sich einige schwer auszufüllende Lücken. Wie viel wir aber auch verloren haben, das Erhaltene bleibt auch als Bruchstück unschätzbar.
Wie das vorhergehende steht auch dieses Gedicht in der Mitte zwischen Götter- und Heldensage. Die Einkleidung ist jener ausschließlich entliehen, aber auch der Inhalt reicht zuletzt zu ihr hinauf. Was von diesem der Heldensage angehört, beschränkt sich nicht wie die heroischen Lieder unsres zweiten Abschnitts auf die auch in Deutschland bekannte Sage von den Niflungen und Giukungen, sondern begreift fast alle nordischen Königsgeschlechter, indem es die grösten Heldennamen, die bis zum Ende des achten Jahrhunderts, seine vermuthliche Abfaßungszeit, im Norden berühmt waren, übersichtlich zusammenstellt.
Wenn ein politisches Lied, so beliebt die Gattung jetzt bei uns geworden ist, Goethen ein Pfui entlockte, so muß ein genealogisches wie das gegenwärtige noch auf viel stärkere Abneigung gefaßt sein, zumal das Interesse, das der Nordländer für die Geschlechtsreihen seiner Könige mitbrachte, uns in unendlich geringerm Maße beiwohnt. Der Dichter scheint aber wohl empfunden zu haben, wie sehr sein Stoff, welche Vorliebe ihm auch entgegen kam, poetischer Behandlung widerstrebte, denn er hat alle Mittel angewandt, welche die Kunst darbot, ihn zu würzen und genießbar zu machen. Dazu bediente er sich der Einkleidung und des Kehrverses, die wir beide abgesondert betrachten wollen.
Wie in der Wegtamskwida Odhin sich nach den Geschicken Baldurs bei der Seherin erkundigt, die er aus dem Grabe weckt, so sucht hier Freyja die höhlenbewohnende Riesin Hyndla auf, die sie schmeichlerisch Schwester und Freundin nennt, um von ihr über die Vorfahren eines Schützlings Belehrung zu empfangen. Wir wißen aus D. 35, daß Freyja einst einem Manne vermählt war, der Odur hieß, und dem sie, als er sie verließ, goldene Thränen nachweinte. Es erhellt nicht, ob dieser Odur derselbe war, der hier als Ottar der junge, Innsteins Sohn, auftritt. Hyndla freilich nennt ihn Freyjas Mann, sie selbst aber nur ihren Schützling, der ihr ein Haus aus Steinen errichtet und oft mit Opferblut getränkt habe. In seinem Geleit kommt sie nun zu der weisen Wala, damit er selbst aus ihrem Munde die Auskunft vernehme, deren er zur Entscheidung eines Rechtsstreits mit Angantyr über sein väterliches Erbe bedarf. Bei ihrem nächtlichen Besuch rückt aber Freyja nicht gleich mit ihrem Anliegen heraus,
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/423&oldid=- (Version vom 31.7.2018)