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Anonym: Edda

26. Bruchstück eines Brynhildenliedes.

Wir haben diesem Liede die Überschrift gegeben, welche es in der Urschrift führt, obgleich wir keineswegs überzeugt sind, daß es ein Bruchstück ist. Nach der von uns angenommenen Anordnung der Strophen und den Lesarten, von welchen wir bei der Übersetzung ausgegangen sind, die zum Theil allerdings auf Conjectur beruhen, scheint wenig oder nichts mehr zu fehlen. In der ersten Strophe liest der Text: „Wie bist du, Brynhild, Budlis Tochter;“ dann müste man aber entweder zwischen dieser und der folgenden Strophe, oder zwischen der zweiten und dritten, eine Lücke annehmen je nachdem man die zweite Strophe Brynhilden oder Gunnarn in den Mund legte. Ist aber die erste Strophe, wie es uns scheint, von Högni an Gunnar gerichtet, so ist alles in Ordnung, und diese Einleitung wenigstens nicht mehr lückenhaft. Zwischen der dritten und vierten mag allerdings noch etwas vermisst werden, da der Einwürfe Högnis ohnerachtet Gunnars in der ersten Strophe schon angekündigtes Vorhaben ausgeführt wird. Allein bei dem Plane des Liedes, welchen erst der Schluß deutlich macht, fehlt nichts Wesentliches. Es soll das tragische Geschick der Giukungen dargestellt werden, welche sich zu Sigurds Ermordung durch dessen Treubruch berechtigt und gegen Brynhild verpflichtet geglaubt hatten, jetzt aber, da sie seine Unschuld erkennen, vor ihrem eigenen Bewustsein selber als meineidige Mörder erscheinen. Wie es Brynhild war, die ihnen Sigurds Treulosigkeit vorgespiegelt hatte um sie zum Morde zu reizen, so ist es auch wieder Brynhild, die sie, da der Mord vollbracht ist, wie es Str. 14 heißt, wie ihr böses Gewissen meineidig schilt und Sigurds Treue auf das Nachdrücklichste schildert. In Bezug auf Brynhilden tritt also zwischen ihrem Benehmen vor Sigurds Ermordung und nach derselben der Widerspruch hervor, welchen die Schlußstrophe, die früher als 15te an der unrechten Stelle stand (obgleich das S. Bugge nicht zugestehen will, der doch sonst unserer Anordnung und Auslegung folgt), ausdrücklich bespricht. Aber erst die Nacht nach Sigurds Ermordung, wo Gunnars Gemüth von schreckhaften Bildern ergriffen wird, sollte den Wendepunkt bilden; darin liegt eine große Feinheit: vor dieser Nacht durfte Brynhild noch in dem alten Tone sprechen, damit am folgenden Morgen die Wahrheit desto greller hervorträte. Diesem Plane gemäß bringen die ersten Strophen nur kurz in Erinnerung, daß Gunnar von Brynhildens Vorspiegelungen verblendet die Ermordung Sigurds, den er für meineidig hielt, gegen Högnis Einspruch betrieben und wie wir aus der vierten Strophe ersehen, durchgesetzt hat. Die fünfte

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/442&oldid=- (Version vom 31.7.2018)