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Anonym: Edda

Gudrunenlied bekannt gewesen sei, indem er aus ihm (Str. 5) die Nachricht über Dietrichs Aufenthalt bei Atli und den Verlust seiner Mannen entliehen habe. Dann müste aber auch die weitere Meldung jenes Eingangs, daß Dietrich und Gudrun einander ihr Leid geklagt hätten, aus dem dritten Gudrunliede entnommen sein, und die Klage der Gudrun im zweiten „alten“ Gudrunliede schwebte in der Luft, sie wär an Niemand gerichtet, man begriffe nicht, was ihr die Zunge löste, während doch der Dichter des ersten Gudrunenliedes sich so viel Mühe giebt, die Klage der vor Leid Verstummenden einzuleiten. Ich nehme daher jetzt mit Müllenhoff Zeitschr. X. 172 an, daß in jenen einleitenden Worten auch das zweite, alte Gudrunenlied in derselben Weise wie das dritte die Anwesenheit Dietrichs an Etzels Hofe voraussetzte. „Wem sonst sollte die arme freundberaubte Gudrunklagen, als ihm dem gleichfalls elenden freundlosen Manne?“ Vgl. Hildebrandslied Z. 23.


31. Das andere Gudrunenlied.

Rask nimmt dieses mit dem dritten Liede zusammen und giebt ihnen die gemeinschaftliche Überschrift Godrunar-Harmr, welcher er das vorige Stück, „Mord der Niflunge“ mit dem prosaischen Eingange unseres Liedes verbunden folgen läßt. Der Name scheint den Schlußworten des dritten Gudrunenliedes entliehen zu sein, wie auch Oddrunargratr sich am Ende selbst seinen Namen giebt, indem es ganz nach der Sitte deutscher Heldenlieder, die noch in den Nibelungen gewahrt ist, mit den Worten schließt: Hier ist Oddruns Klage zu Ende. Allein der Harm Gudruns, welcher ihr im dritten Liede durch Herkias Bestrafung gebüßt wird, ist ein ganz anderer als der, welchen sie in dem gegenwärtigen klagt: aus den Schlußworten jenes: „So ward der Gudrun vergolten der Harm,“ kann mithin für dieses keine Überschrift hergeleitet werden. Auch scheinen mir diese beiden Lieder, die so vereinigt werden sollen, wenig gemein zu haben. Von dem zweiten haben wir gesehen, daß es das alte Gudrunenlied genannt wurde; in der Nornagests. c. 2 scheint es unter Gudruns alter Weise verstanden und die Vergleichung mit dem ersten hat nichts ergeben, was der Meinung widerspräche, daß es älter sei als dieses. Gegen die Composition unseres Liedes finden wir wenig einzuwenden: es faßt Gudruns Schicksale, mit Ausschluß ihrer dritten Vermählung, geschickt zusammen, und obgleich der Zeitpunkt vor ihrer Rache an Atli genommen ist, wird diese doch zuletzt als Vorsatz angekündigt, und bei Auslegung der Träume Atlis geschildert. Der Eindruck, den dieser Schluß hervorbringt, ist stark genug,

Empfohlene Zitierweise:
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/452&oldid=- (Version vom 31.7.2018)