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zwischen zweien Welten schwebend, ja, die endlose Kluft zwischen beiden ständig durchmessend, gedachte ich der ungelösten Schauer, die im Wachen meines Zweifelns besseres Teil gewesen waren. Dort fehlte mir etwas, aber seine Synthese, die ich hier erlebte, versuchte ich nicht. Ich sammelte mich nicht, um das Wertvolle, aber Einzige und Unteilbare zu erfassen, ich entwertete es vielmehr, da ich es zersplitterte. Und je weiter ich mich von einem Ursprünglichen entfernte, je näher wähnte ich an seine Quelle gelangt zu sein. Doch hier bin ich meiner Qual enthoben. Ich finde meine Schwester vor und das ist keine Täuschung! Die Energie, die ihren Bewegungen entströmt, hat auch mich gefördert, den Schmerz, der ihre Lippen gepreßt und schmal macht, habe ich mitverschuldet. Aber ich verschwendete ihre Energie und entheiligte ihren Schmerz. Nun sehe ich die untrüglichen Umrisse ihrer Gestalt, ihres Antlitzes unverkennbaren Ausdruck, ihres Lächelns eigentümliche Melancholie. Auch sie ist ein Problem, aber es birgt die Lösung in sich. Nichts in der Welt ist ihr vergleichbar, ja, nichts in der Welt ist neben ihr vorhanden. Sie spottet des Gemeinsamen, das sie zu erniedrigen scheint, da sie es selbstschöpferisch in jedem Augenblicke neu erzeugt. Sie ist sich selbst die einzige Instanz und souveräner als ein Fürst, weil ihr die Untertanen fehlen. Wäre es nicht kleinlich, an ihrer Existenz zu zweifeln, da ihre Giltigkeit über jeden Zweifel erhaben ist? Und ist es umgekehrt nicht verstimmend, wenn zwei Menschen einander läppisch ähnlich sehen? Ist nicht gar der Gedanke, daß irgendwo mein Doppelgänger herumläuft, der entsetzlichste und verruchteste, da er doch dem Gesetze der Welt Hohn zu sprechen scheint?

Ihr unvergängliches Wesen aber mit Worten beschreiben oder auch nur festhalten, das kann ich nicht. Ich müßte denn das Chaos ausschalten, das an sie grenzt und so ihrer Form teilhaftig ist. Und fühlte ich auch die Kraft dazu in mir, was nützt es mir jetzt, da ich erwacht bin, da sie mir entschwebt und, wie ich weiß, mir für immer verloren ist.

Empfohlene Zitierweise:
Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 301–302. Die Fackel, Wien 1910, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Fackel_Nr._301%E2%80%93302.djvu/37&oldid=- (Version vom 31.7.2018)