Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 333 | |
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Wenn ich nicht wirklich ein so gutes Gedächtnis hätte, könnte es geschehen, daß ich mich an alle Leute erinnere, die mich erinnern.
Wiewohl ich viele Leute gar nicht kenne, grüße ich sie nicht.
„Sich taufen lassen“: das klingt wie Ergebung. Aber sie wollen nie lassen, sondern immer tun; darum glauben sie’s selbst dem nicht, der ließ, und glauben, daß er getan hat, und sagen: „Er hat sich getauft!“
Die Juden haben geglaubt, einen starken Beweis ihrer Assimilationsfähigkeit zu liefern, indem sie in einer übertriebenen Art von den christlichen Gelegenheiten Besitz ergriffen haben. Dadurch sind die jüdischen Gelegenheiten beträchtlich vermehrt worden. Nein, sie sind nicht mehr unter sich: die andern sind es; und es wird lange Zeit brauchen, bis die Antinomie beseitigt ist, daß Samuel nicht so deutlich klingt wie Siegfried. Denn die Welten sind nicht eins, wenn die eine das Kleid der andern trägt und diese es darum ablegt. Der jüdische Nationalismus aber sei wie jeder Rückschritt willkommen, der aus einer pseudonymen Kultur dorthin zurückführt, wo ihr Inhalt wieder wert ist, ein Problem zu sein.
Wien hat eine schöne Umgebung, in die Beethoven öfter geflüchtet ist.
Die Großstadt soll der Individualität eine Umgebung sein. Aber wehe, wenn sie selbst Individualität hat und eine Umgebung braucht.
Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 333. Die Fackel, Wien 1911, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Fackel_Nr._333.djvu/11&oldid=- (Version vom 14.8.2016)