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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Sie werden aus dieser Inhaltsangabe kaum ersehn, worin der fesselnde Reiz des Romans liegt; eine Menge zum Theil ergötzlicher Nebencharaktere, wie der Commercienrath und die Gouvernante Fräulein Duff, die Vorzüge des Styls, die Fülle geistreicher Gedanken, die durch das ganze Werk zerstreut sind, üben mit und neben den Abenteuern des Helden die größte Anziehungskraft aus.

Doch wo ist Hammer und Amboß? – werden Sie fragen. Ueberall und nirgends. Wir müssen nur mit den Augen des Dichters sehn. Unsere Zeit mit ihren Zuchthäusern und Fabrikwerkstätten erscheint hier noch als eine barbarische. Ueberall das kaum versteckte Verhältniß zwischen Herr und Knecht, überall die bange Wahl, ob wir Hammer sein wollen oder Amboß. Doch es giebt ein Drittes, welches diese Wahl ausschließt. Der Held selbst zeigt den Weg, indem er die Arbeiter seiner Fabrik am Schluß zu Theilhabern derselben macht, nach Verhältniß ihrer Kräfte, ihres Verdienstes, ihrer Mittel.

Ich errathe Ihre Gedanken, Madame! Sie meinen, Hammer und Amboß sind so alt wie die Welt und werden mit ihr älter werden. Doch wer hat mehr Recht, an eine schöne Zukunft zu glauben, als die Dichter? und dichterische Naturen wie Sie werden den Glauben an den endlichen Sieg der Humanität nicht verdammen!




Der Wunderthäter in Boehle.

Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Aberglaubens.

In Westphalen, etwa eine Stunde von Hagen entfernt, liegt das Dörfchen Boehle, eine katholische Ortschaft inmitten einer vorwiegend protestantischen Bevölkerung. Von den Höhen der umliegenden Berge schauen die Ruinen von Hohenburg und Vollmarstein, die Monumente von „Stein“ und „Vincke“ hernieder; ein fruchtbarer Boden liefert dem Landmann reichen Ertrag, und ringsumher ertönt das Klappern der Hämmer, „wo der Märker Eisen reckt“. Boehle selbst zeichnet sich durch nichts vor ähnlichen Dörfern aus; kein alterthümliches Gebäude erweckt in uns romantische Gedanken, keine hervorragende Naturschönheit hält uns gefesselt. Dennoch hat dieses kleine Dörfchen seit Jahren im Geruche der Heiligkeit gestanden; von den benachbarten Städten Hagen, Herdecke, Schwerdte etc. pilgerten seit langer Zeit am Frohnleichnamstage große Processionen zur Boehler Kirche, freilich winzig und unbedeutend gegenüber den Wallfahrten, die seit länger denn Jahresfrist zum wunderthätigen Pfarrer in Boehle angestellt werden.

Pfarrer Hecking.

Diese Kranken-Karawanen zeigen sich fast täglich; die Frühzüge der Bergisch-Märkischen Eisenbahn bieten mitunter ein wahrhaft widerwärtiges Bild, und an den Bahnhöfen der Stationen Herdecke, Westhofen, Cabel und Hagen sieht man eine Musterkarte menschlichen Gebrechens und Elends. Irrsinnige Männer und Weiber, Epileptische, Schwindsüchtige im letzten Stadium ihrer Krankheit, Krebsleidende, Gichtbrüchige und Verwachsene werden in die Wartesäle geschleppt; der Zudrang wurde an den Bahnhöfen zu Herdecke und Westhofen so groß, daß die Bahn-Direction zur Aufnahme der Kranken neben den Stationsgebäuden besondere Localitäten errichten mußte. Von diesen Orten aus wird durch Omnibusse, Droschken und Leiterwagen die Beförderung der Leidenden nach Boehle vermittelt, und sehr oft ist der Zusammenfluß von Hülfesuchenden so stark, daß die Verkehrsmittel nicht ausreichen und manche Kranke genöthigt sind, auf der Streu in Bauernhäusern zu übernachten. Häufig sind fünf- bis sechshundert Personen an einem Tage in der Boehler Kirche, um sich durch Gebet und Händeauflegen des alten Pfarrers Hecking Genesung zu verschaffen.

Das stärkste Contingent lieferte anfänglich das Münsterland, die Heimath jenes Volksstammes, der bekanntlich dem Aberglauben wie kein zweiter in Deutschland ergeben ist, während jetzt die Holländer, Ostfriesen und die Bewohner des Niederrheins hauptsächlich die Wanderschaft zu dem neuen „Schäfer von Nieder-Empt“ unternehmen. Die Witzblätter „Kladderadatsch“, „Funken“ und „Wespen“ ließen es an Spott und Satire nicht fehlen; die Gesellschaft „Ulk“ in dem benachbarten Haspe arrangirte zur Nachfeier der Hasper Kirmeß einen imposanten Festzug, um in Boehle den verhärteten Katzenjammer wegbeten zu lassen, aber bis heute florirt noch ungehindert der Curirschwindel des alten Pfarrers. Und wären es nur Leute aus den niedrigsten Volksschichten, arme Menschen mit vernachlässigter Jugendbildung und Erziehung, die dort Hülfe suchen! Bilden diese auch gemeinschaftlich mit Bauersleuten die Mehrzahl der Wundergläubigen, so knieen doch vor dem Boehler Altar auch Personen aus den ersten Ständen, Grafen und Freiherren, Männer und Frauen aus den reichsten Familien; Protestanten und Juden bitten neben den Kindern der alleinseligmachenden Kirche um den Segen des Wunderthäters. –

Die Gartenlaube bringt heute das Portrait dieses wunderlichen Heiligen. Pfarrer Wilhelm Hecking ist zu Nieder-Wenigern in Westphalen geboren und jetzt siebenzig Jahre alt. Seit vierunddreißig Jahren bekleidet er die Stelle des katholischen Pfarrers in Boehle, nachdem er zuvor in Altena an der Lenne Caplan gewesen. Sein Ruf als Wunderdoctor datirt seit etwa zehn Jahren; man brachte damals einen vom Veitstanze befallenen Knaben aus Voerde zu ihm, und die Nachricht verbreitete sich, daß das Kind durch Händeauflegen und Gebet Genesung gefunden habe. Es ist eine von den Aerzten selbst anerkannte Thatsache, daß heftige Gemüths-Eindrücke oftmals bei sogenannten Nerven-Krankheiten, bei Hysterie und ähnlichen Uebeln Heilung herbeiführen, und so mag denn auch wohl die Erzählung von der Wiederherstellung des Voerder Kindes auf Wahrheit beruhen.

In den nächsten Jahren blühte indessen die Kunst des Pfarrers Hecking wie ein Veilchen im Verborgenen; je dann und wann wurde freilich ein Nervenkranker zum Boehler Pfarrer gebracht, aber Boehle konnte noch keineswegs die Concurrenz mit dem westphälischen Oertchen Breckerfeld aushalten, wo ein altes Weib durch Speckausbraten seit Jahren den Grund aller menschlichen Leiden errieth und durch Thee aus mancherlei Wurzeln und Kräutern angeblich noch Hülfe schaffte, wenn alle Kunst der Aerzte nicht mehr fruchten wollte. Hätte sich jene Genossin des seligen Schuster Lampe zu Goslar rechtzeitig, wie der Boehler Pfarrer, auf’s Beten und Segnen gelegt, so könnten jetzt die Breckerfelder Wirthe ebenso vergnügte Gesichter machen wie die Besitzer der Gasthäuser in dem neuen Zion bei Hagen. Die alte Speckbraterin hat indessen ihre Zeit nicht begriffen, und schwerlich wird sie je den Tag erleben, an welchem sie über fünfhundert Thaler von Kranken entgegen nimmt, wie das der Boehler Pfarrer wiederholt gethan. Keineswegs wollen wir jedoch behaupten, daß der Pfarrer Hecking aus Gewinnsucht die Krankenheilung unternommen habe; wir haben die genauesten Erkundigungen über ihn eingezogen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_747.jpg&oldid=- (Version vom 29.11.2022)