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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Licht- wie Schattenseiten, könnte aber zur Bewältigung der kolossalen Schwierigkeiten dieses ungeheuren Landes kaum anders gedacht werden, als so, wie er wirklich ist, und als das Gegentheil von deutscher Aengstlichkeit und Engherzigkeit. Daß dieses andererseits auch wieder mancherlei Ausschreitungen im Gefolge hat, kann darnach nicht allzusehr auffallen.

Die Zahl der Deutschen ist in Boston im Verhältniß zu andern Städten eine sehr geringe und wird auf nur acht- bis zwölftausend geschätzt. Dennoch zeigte der starke und, wie mir gesagt wurde, bei gleicher Gelegenheit so noch nicht dagewesene Besuch meiner Vorlesungen für das hier auch unter den Deutschen verhältnißmäßig mehr, als an andern Orten, entwickelte geistige Leben. Leider kann sich dieses Leben bis jetzt immer nur auf eine mehr oder weniger gebildete Minderzahl beschränken, da die weitaus größte Mehrzahl der Deutschen in den amerikanischen Städten lediglich aus Arbeitern besteht, für welche Amerika in Wahrheit ein ebensolches Eldorado ist, wie für alle Arten von Dienstboten. Nirgendwo in der ganzen Welt wird die Arbeit so gut bezahlt, wie hier, nirgendwo leben daher die arbeitenden Classen in gleicher Weise gut und comfortabel; nirgendwo fühlt sich der Arbeiter, eben dieses materiellen Wohllebens wegen, in gleicher Weise behaglich. In geistiger Beziehung macht er freilich in der Regel keine Ansprüche, wenigstens keine höheren, als er sie in der alten Heimath auch gemacht hat, und kann daher meistens auf ihn nicht als auf eine Stütze für vom alten Vaterlande her eingeführte geistige Bestrebungen gerechnet werden. Dies wird sich jedoch von Jahr zu Jahr bessern, namentlich im s. g. Westen, in welchem das deutsche Element bedeutend stärker durch Zahl, Bildung und Einfluß sein soll, als im Osten. Dort wird es möglicherweise auch in nicht allzu ferner Zeit an einzelnen Plätzen das vorherrschende Element werden, während im Großen und Ganzen an ein Verdrängen des Amerikanerthums durch das Deutschthum, wie es einzelne Enthusiasten träumen, vorerst noch nicht zu denken ist. Dagegen haben wiederum die Amerikaner in geselliger Beziehung Manches von den Deutschen angenommen, z. B. die früher ganz ungebräuchliche und jetzt fast allgemein eingeführte Feier des Weihnachtsfestes. Man könnte sich fast in Deutschland glauben, wenn man jetzt in der Weihnachtszeit die geschmückten Läden im Glanze der Lichter strahlen oder die Christbäume durch die Straßen tragen sieht. Auch das Bier ist eine deutsche Importation und wird gegenwärtig von den Amerikanern kaum weniger gern als von den Deutschen getrunken, obgleich das, was man hier als „deutsches Lagerbier“ zu genießen pflegt, von seinem edlen Vorbilde kaum mehr als den Namen und die Farbe hat. Nur im Westen wird gutes deutsches Bier gebraut.

Von dem materiellen „Stoff“, bei dessen Betrachtung es demnach zweifelhaft bleibt, ob die nothwendige Verbindung mit dem entsprechenden Quantum von „Kraft“ vorhanden ist oder nicht, muß ich noch einmal auf den geistigen Stoff zurückkommen und erwähnen, daß auch Boston, wie New-York, sich einer Institution erfreut, welche man in europäischen Städten in ähnlicher Weise wohl vergeblich suchen würde, nämlich einer öffentlichen, unentgeltlichen und Jedem jederzeit zugänglichen „Volks-Bibliothek und Lese-Anstalt“. Ihre Einrichtung bietet viele Aehnlichkeit mit der New-Yorker „Mercantile Library“ oder Kaufmanns-Bibliothek, welche man gewissermaßen als „die größte der Welt“ bezeichnen könnte, und welche sich von der Bostoner Anstalt dadurch unterscheidet, daß in der Regel nur Abonnenten dieselbe besuchen und benutzen können. Sie ist aus einem ganz kleinen im Jahre 1821 von einer Gesellschaft junger Kaufleute gemachten Anfang entstanden und besitzt gegenwärtig ungefähr einhundertfünzigtausend Bände und zehn- bis zwölftausend Mitglieder. Sie hat ein prachtvolles Gebäude (die sogenannte Clinton-Hall) zu ihrer Verfügung und erhebt, da sie von reichen Kaufleuten unterstützt wird, nur einen sehr geringen Beitrag von ihren Mitgliedern. Das riesige Lesezimmer enthält mehrere hundert Zeitungen und Zeitschriften, und die jährliche Bücher-Circulation beträgt etwa zweihundertsechzigtausend Bände. Eine besondere deutsche Abteilung mit einem deutschen Bibliothekare besitzt zehntausend Bände. Die Freundlichkeit und Zuvorkommenheit, mit der man den Verfasser dieser Briefe bei seinem Besuche der Anstalt empfing und ihm die ausgedehnteste Benutzung derselben frei stellte, kann derselbe nicht genug rühmen.

Eine erwähnenswerthe Merkwürdigkeit von Boston ist die chromolithographische Anstalt von Prang, einem Deutschen, der durch unermüdliche Ausdauer und Geduld nach und nach dahin gekommen ist, eine bewunderungswürdige Fertigkeit in Nachbildung und Vervielfältigung bedeutender Kunstwerke oder sonstiger Malereien (namentlich für häusliche und für Schulzwecke) auf dem Wege des Oeldrucks zu erlangen. Seine wirklich ausgezeichneten Leistungen dürften kaum von irgend welchen europäischen Anstalten übertroffen werden. Ueberhaupt darf man als Deutscher stolz darauf sein, wenn man hier so oft Deutsche als Begründer und Leiter von industriellen oder sonstigen Unternehmungen findet, zu denen ein besonderer Grad von Intelligenz, Geschicklichkeit oder Ausdauer erforderlich ist.

Die berühmteste Pianofortefabrik der Welt ist wohl diejenige von Steinway in New-York, dessen Name vermuthlich die etwas englisirte Lesart für den guten deutschen Namen Steinweg ist. Die Familie Steinweg stammt aus Braunschweig und besteht gegenwärtig noch aus drei in New-York wohnenden Brüdern, welche die Geschäfte ihrer nach und nach aus den winzigsten Anfängen emporgewachsenen großartigen Anstalt, welche ein ganzes Häusergeviert bildet, untereinander verteilt haben. Der Ruf der Steinway’schen Instrumente, von denen die Fabrik durchschnittlich in jeder Stunde eins liefert, ist allzu bekannt, als daß ich etwas darüber zu sagen nötig hätte. Allerdings haben die amerikanischen Clavierbauer einen Vortheil vor den europäischen voraus, der jede Concurrenz der letzteren auf dem hiesigen Markte ausschließt; derselbe liegt zum Ersten in den vortrefflichen amerikanischen Hölzern und zum Zweiten in der großen Trockenheit der Luft, welche das Holz, namentlich bei längerer Aufstapelung im Freien, bis zu einem in Europa unerreichbaren Grade austrocknen läßt. Daher auch europäische Claviere in Amerika in der Regel durch Springen zu Grunde gehen. Uebrigens ist der Pianoforteverbrauch in Amerika ein kolossaler, und es bestehen neben der Steinway’schen noch eine große Menge anderer, kaum weniger berühmter Firmen.

Der Weg zwischen Boston und New-York, ein Weg, der ungefähr so weit ist wie der zwischen Hamburg und Berlin, der aber für nichts gerechnet wird, zieht sich zum Theil an dem Meeresufer hin und entschädigt den Reisenden durch gelegentliche Ausblicke auf die See für die sonstige Oede der Gegend, welche Oede übrigens durch die zahlreichen, lauter Wohlhabenheit athmenden hellen amerikanischen Farmhäuser mit ihren hölzernen Veranden unterbrochen wird. Bisweilen zeigt auch die Gegend landschaftliche Abwechslung und Scenerie, namentlich zwischen New-York und New-Haven, einer am Long-Island-Sund sehr schön gelegenen Stadt von circa fünfzigtausend Einwohnern, in welcher die deutschen Turner eine für meinen Rückweg von Boston bestimmte Vorlesung arrangirt hatten. Trotz ihrer verhältnißmäßig geringen Anzahl waren die Deutschen sehr zahlreich aus New-Haven und der Umgegend erschienen und zeigten sich dankbar genug für die empfangene Anregung. Für den 31. December ist hier eine Vorlesung unseres berühmten Landsmannes Schurz in englischer Sprache über „Frankreich und Deutschland“ angekündigt. Er wird zu den ersten Rednern des Landes gezählt.

Seit ich Ihnen das letzte Mal schrieb, ist der durchgefallene Präsidentschaftskandidat Greeley gestorben. Sein Mißerfolg scheint seinen Verstand verwirrt und sein Herz gebrochen zu haben, wozu noch der rasche Tod seiner Frau mitgewirkt haben mag. Offenbar war Greeley aus einem andern Teige gebacken als die meisten seiner Landsleute und besaß eine mehr innerliche, empfindsame Natur, welche die Aufregung der Wahlcampagne und die daraus gefolgte Enttäuschung nicht zu ertragen vermochte. Auch mag er wohl den größten Theil seines Vermögens der Wahlagitation geopfert haben und sah sich nach dem Fehlschlagen seiner Pläne nicht mehr im Besitze der gewohnten Mittel. Mit bekannter Großmuth und Freigebigkeit offerirten die Amerikaner sofort den zurückgebliebenen Töchtern eine Summe von hunderttausend Dollars, welches Anerbieten jedoch von ihnen ausgeschlagen wurde. Auch das großartige Leichenbegängniß Greeley’s, bei welchem sogar Präsident Grant aus Washington erschienen war, zeigte, wie rasch hier der Tod oder irgend eine Entscheidung überhaupt allem politischen Hasse ein Ende macht – gewiß eine der wohlthuendsten Erfahrungen politischer Freiheit!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_067.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)