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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Verzweigung macht sie aus einiger Ferne der Eiche ähnlich. Allerdings gewährt die hinsichtlich der Blattform und Größe außerordentlich wechselnde und abweichende Belaubung, besonders vom Winde bewegt, einen etwas krausen Anblick, aber stets macht der Baum den Eindruck üppiger Derbheit, großer Lebensfülle und Triebkraft. Und er besitzt diese auch, wie kaum ein anderer.

Und darin wurzelt denn die älteste protestantische Legende, welche der Ulme von Pfiffligheim den Namen gegeben, indem sie dieselbe mit dem Helden der Reformation in Verbindung setzt. Wird doch Uhland durch eine andere Ulme, die von Hirsau, welche in keiner erkenntlichen Beziehung zu dem großen Reformator steht, an diesen erinnert:

„Zu Wittenberg im Kloster
Wuchs auch ein solcher Strauß,
Der brach mit Riesenästen
Zum Clausendach heraus.“

Wie erwähnt, galt die Ulme von Pfiffligheim als das einzige Luther-Denkmal, bevor das prachtvolle aus Erz in Worms errichtet wurde. Von altersher führte sie ihren Namen, und alle den Baum umrankende Sagen und Ueberlieferungen knüpfen an jene stürmischen Lenztage an, da Luther von Oppenheim her in Worms einzog.

Die Augen der Welt waren damals hierher gerichtet, wo der glänzendste Reichstag stattfand, Stadt und Umgebung überfüllt war von dem Gefolge der Kurfürsten und aller Reichsstände, von dem Geleite des Reichsoberhauptes selbst aus Hispanien, Sicilien und Flandern. Sechsundsechszig Fürsten, an hundert Grafen nebst sechszig Deputirten der freien Städte hatten sich eingefunden, außerdem eine unzählige Menge von Prälaten, Domherren, Rittern, fremden Botschaften, Doctoren, wälschen Krämern, Händlern, Junkern und Neugierigen aus Dorf und Stadt, die sich der tollen Fastnachtslust unter den Augen des jugendlichen Kaisers selbst („Carle von Gent“) erfreuten. Neben ihm, dem Weltherrscher, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, fesselte die Aufmerksamkeit der Menge für eine Weile der erste Indianer auf deutschem Boden, ein „nach Zigeunerart verschleierter“ Eingeborener Mexicos, den Cortez seinem Könige zur Huldigung über’s Weltmeer geschickt hatte.

Aber die Theilnahme an diesen glänzenden und fremdartigen Erscheinungen erlosch, als man erfuhr: Martin Luther, der herzhafte Augustiner und Professor zu Wittenberg, sei von Kaiser und Reich zur Verantwortung gefordert und – werde kommen. Die deutschen Fürsten waren nämlich auf das Machtwort der vom Legaten verlesenen päpstlichen Bulle nicht eingegangen und bestanden unter Friedrich’s des Weisen Führung darauf, daß man Luther höre, bevor man verdamme. Und muthig setzte sich der citirte Mönch mit seinem Anwalte und einigen Freunden in das Rollwäglein, das der Wittenberger Magistrat gestellt hatte, und fuhr dem Unbekannten entgegen an den Rheinstrom. In Oppenheim noch gewarnt, sprach er das Wort: wenn in Worms so viel Teufel als Ziegel auf den Dächern, wolle er doch hin.

Die ganze deutsche Welt war in Aufregung, Worms in fieberhafter Spannung. Viele vom Reichsadel ritten zum Willkomm entgegen und gaben dem bleichen, von Krankheit und Ermüdung abgezehrten Mönche ein stattlich ritterliches Geleit. Bescheiden lehnte er ab, auch Sickingen’s Schutz auf der Edernburg. Am 16. April zehn Uhr Morgens kam er unter ungeheurem Volkszulaufe nach Worms hinein und stieg im deutschen Ordenshause ab, wo auch einige edle sächsische Räthe und der Reichserbmarschall von Pappenheim ihre Herberge hatten. Der weitere Verlauf ist bekannt.

Vor seinem Einzuge in Worms kam der Reformator zu der Stelle der Ulme von Pfiffligheim, denn die Heerstraße von Oppenheim her, die alte „Hessenstraße“, führte vor der Erbauung der napoleonischen Kaiserstraße über die Anhöhen und den flachen Pfrimmgrund nach dem Dorfe herüber und bog erst beim Luther-Baume in die gerade Richtung nach Worms ein. Nach einer Ueberlieferung – und die Annahme hat Wahrscheinlichkeit für sich, wenn auch kein Chronist es bekundet – habe nun Luther die Gelegenheit zu kurzer Rast hier im Schatten der Dorfulme ergriffen, wo bei der Biegung des Wegs die thurmreiche Stadt, in welcher sein und seiner Lehre Schicksal entschieden werden sollte, in Sicht lag. Die Aussicht mag ihm wohl Herzklopfen verursacht haben, wenn er auch keinen Augenblick an Widerruf dachte. Denn er selbst hat als Urkunde seines damaligen beunruhigten Gemüths nachträglich jenes leidenschaftliche Gebet aufgezeichnet, jenen Aufschrei zu Gott (seinem „Schutz“ und „Schirm“, seiner „festen Burg“), mit welchem er die Ruhe und Klarheit seines Geistes wieder gewann.

Während der zehn Tage seiner Anwesenheit in Worms – meldet eine weitere Tradition – sei der rüstige Glaubenskämpfer heraus zur Dorfrüster gekommen, um hier dem zusammenströmenden Landvolke eine jener populären, packenden und erschütternden Predigten zu halten, von denen er selbst gelegentlich zu Bucer sprach, wie er sich dabei dem Verständnisse und der Anschauungsweise des gemeinen Mannes anbequeme, um ihn zu erheben. Luther unter der Dorfrüster den rheinischen Bauern predigend – ein urdeutsches, poetisches Bild!

Auch bei seinem Abzuge von Worms, am Vormittage des 26. April, wo am Oberrhein schon Alles grünte und blühte und die Ulme im lenzfrohen Laubschmuck stand, habe der Reformator – so wird angenommen – von hier den letzten Blick nach der Stadt zurück geworfen, wo Gott durch ihn so Großes vor der Welt verrichtete, „Ist’s Menschenwerk, wird es von selbst vergehen: ist’s von Gott, so wird es bestehen.“

Andere erzählen: Hier bei der Ulme habe der Gottesmann die ritterliche Schaar getroffen, die zu seinem Troste und Schirm von Worms ausgeritten war. Frundsberg sei an das Rollwäglein herangetreten, und auf des Kriegshelden Wort: „Mönchlein, Du thust einen schweren Gang!“, habe Doctor Martinus auf ein schwaches Bäumlein am Wege deutend geantwortet: „Wie dies Reislein zum Baume erwächst, werden sie meine Lehre nicht dämpfen!“

Indeß erinnert diese Fassung der Sage doch zu sehr an die moderne Weise, historische Thatsachen in novellistischen Zusammenhang zu bringen. Und so entschied sich die Meinung der nüchternen und verständigen Leute dahin, daß die Ulme einfach zur Erinnerung an Luther’s Anwesenheit in Worms und sein muthiges Auftreten daselbst gepflanzt worden sei.

Allein die Größe des Baumes weist auf höheres Alter hin. Obwohl man stattliche Rüstern von mehr als hundert Fuß Höhe findet, die kaum zweihundertfünfzig Jahre stehen mögen, wie die noch im Alter breiten Jahresringe darthun könnten, so kennt man doch auch solche, denen urkundlich ein weit höheres Alter nachgewiesen ist. Immerhin thut Gerock in seinen Reimen auf unsere Luther-Ulme des Guten wohl zu viel, wenn er meint: „wuchs auf zur Nibelungenzeit, eh’ noch erstand der Wormser Dom!“ Die eigentliche Volkssage und bekannteste Legende vom Luther Baum kümmert sich jedoch nicht um solche Wahrscheinlichkeitsberechnungen und hat eine sinnigere Deutung, indem sie ganz im Zeitgeiste der Reformation ein Motiv benutzt, das am bekanntesten aus der Tannhäuser-Sage herausklingt.

Man erinnere sich, daß die Reformation kein zusammenhangloses Ereigniß ist, sondern das Ergebniß von Stimmungen war, die durch das ganze Mittelalter wirksam blieben und schon die erste Glanzperiode unserer Literatur durchgeistigen. Wenn Walther von der Vogelweide auch nach seinem Abschied von der „Frau Welt“ noch in seinen Liedern den Papst befehdet, selbst Wolfram von Eschenbach seine Heidenfreundlichkeit in keinem Epos verleugnet und Freidank geradezu der Grausamkeit des Papstes das Erbarmen Gottes gegenüberstellt, so hat sich auch das eigentliche Volkslied ganz in demselben Sinne der Sage vom Tannhäuser bemächtigt.

Ein fahrender Sänger dieses Namens, den wir aus der Manesse’schen Sammlung kennen, hat, nachdem er sein Leben lang der weltlichen Minne in frivolen Liedern gefröhnt, in einem Bußliede gleich Herrn Walther Abschied von der „Frau Welt“ genommen und voll Erhörungszuversicht zu Gott um Vergebung seiner Sünden gefleht. Nun sang das Volk von ihm in einer dem Sänger eigenthümlichen Strophe: wie Ritter Tannhäuser Abschied nahm von der heidnischen Göttin im Venusberg, um seine Wiederversöhnung mit Gott zu erstreben. Aber kein Priester wollte dem Reuigen seine Sünden vergeben, auch der heilige Vater in Rom nicht. Der Papst Urban (der Vierte) hatte einen weißen dürren Stock in der Hand und sprach verdammend:

„So wenig dieser Stab grünen mag, kommst du zu Gottes Gnaden!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_454.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2023)