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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

als auf dem Blatte klebende Raupe; ihr Ruhm, ihre Größe ist die Welt, die in ideellen und materiellen Verkehr vereinigte Familie aller Nationen. Sie sind im besten Wesen und Wirken „Haupt“ – „Kosmos,“ sie haben „das Pulver erfunden,“ die Buchdruckerkunst, das Dampfschiff; sie haben immer für die ganze Welt gearbeitet, trotz aller Patente, Potentaten, Polizei und Schutzzölle. Sie sind die Rothschilde der Idee und Erfindungen, nur daß sie nicht so pfiffig damit wuchern, wie die materiellen Rothschilde.

Der höchste und schönste Ausdruck, die mächtigste, durch alle Welt leuchtende Personification der deutschen Herrschaft über die Welt ist das Dioskuren-Paar Schiller und Goethe. Die triviale Frage: wer ist größer? beantwortet sich dadurch, daß sie zusammen Eine Größe, die höchste, edelste Manifestation der Idee Mensch sind. Kein Volk der Erde hat ein so ewig schönes, unsterblich leuchtendes Doppelgestirn aufzuweisen, als dieses Freundschaftspaar, zugleich der vernichtendste Vorwurf für unsere modernen „ersten Größen,“ die immer ihren Rivalen gleich vernichten möchten, weil jeder solcher Heros meint, er sei schon für sich allein beinahe zu groß.

Niemand unter den vielen Biographen und Buchmachern Goethes hat die Schönheit und welthistorische Bedeutung dieser Freundschaft Goethe’s und Schiller’s so schön erkannt und so warm gepriesen, als Lewes. Er arbeitete zehn Jahre an der Biographie Goethe’s, den er an Ort und Stelle, aus unveröffentlichten Quellen, aus den Mittheilungen der Wenigen, die ihn persönlich sahen und kannten und ihn überlebten, so genau studirte und erkennen lernte, wie wohl kaum der beste Goethekenner in Deutschland.

„Keine Geschichte liefert etwas Aehnliches,“ sagt Lewes, „als diese Freundschaft zwischen Schiller und Goethe. Sie waren Rivale, Naturen vielfach einander entgegengesetzt, Häupter feindlicher Lager und nur durch das Höchste in ihren Charakteren und Bestrebungen vereinigt. Auf den ersten Blick sah man ihre tiefe Verschiedenheit. Goethe’s schönes Haupt trug den Ausdruck ruhiger, siegender Majestät des griechischen Ideals, Schiller’s, die wehmüthige Schönheit eines der Zukunft zugewandten Christen. Die massive Braue und großen Augenpupillen, wie sie Raphael dem Christkinde auf seinem besten Madonnenbilde „di San Sisto“ gab, die starken und schön proportionirten Glieder und tief ausgeprägten Gesichtszüge, allerdings gefurcht von der That des Gedankens und dem Leiden der Leidenschaft, aber zugleich beweisend, daß Gedanke und Gefühl den starken Helden nicht zu besiegen vermochten, eine gewisse Kraft der Gesundheit durch die braune Haut scheinend, und jenes oft beschriebene, nicht zu beschreibende Etwas, das aus dem Gesichte leuchtete – Alles vereinigte sich in Goethe zu dem stärksten Gegensatze zu Schiller mit seinen scharfen Augen, der engen Braue – innig und energisch – seinen unregelmäßigen Zügen, gefurcht durch Leiden und Denken, abgeschwächt durch Krankheit. Der Eine sieht, der Andere blickt. Beide sind majestätisch. Der Eine hat die Majestät der Ruhe, der Andere des Conflictes und Kampfes. Goethe’s Gestalt ist massiv, ehrfurchtgebietend, er erscheint viel größer als er ist; Schiller’s Körperform ist ohne Proportion, er ist lang, erscheint aber viel kleiner. Goethe hält sich steif aufrecht (in der Regel mit auf dem Rücken überschlagenen Händen); der langhalsige Schiller hat einen Gang wie ein Kameel (wie Tieck zu Rauch sagte), Goethe’s Brust gleicht dem Torso des schönsten griechischen Heros, des Theseus, Schiller’s ist eingesunken und hat eine Lunge verloren.“

Der äußerliche Contrast zeigt sich in deren Dichtungen: Schiller, der Titanenkampf des Willens, des Freiheitsgefühls gegen Natur- und Lebensfesseln, Goethe in der Natur und in den natürlichen Bedingungen aller Dinge, deren Vernunft, Nothwendigkeit und Schönheit erkennend. Aber die Freiheit Schiller’s und die Schönheit des natürlich Vorhandenen sind blos zu erreichen, zu genießen durch die Kunst, die Poesie. Das ist ihre Vereinigung, ihre Freundschaft, ihr inniges, edles Aufeinanderwirken bis zu Schiller’s Tode. Goethe hatte damit, wie er an Zelter schrieb: „die Hälfte seines Daseins verloren.“ Die große, stolze Sonne ging von Schiller’s Tode an langsam, ruhig und klar unter, unter von 1805 bis 1832. In Schiller war ihm „ein neuer Frühling gekommen.“ Goethe’s Meisterwerke, Goethe’s vollendete Dichtungen fallen in seine Schiller-Periode von 1794 bis 1805.

Goethe’s natürliche, glückliche Organisation, die schönste und gesundeste, die Hufeland je gesehen, und gesunde Lebensweise trugen ihn weit über die Gräber der edeln und lieben Seelen hinweg, die er, die ihn geliebt. – „Er stand regelmäßig um sieben Uhr auf, zuweilen früher, nie später, nach einem langen, gesunden Schlafe, denn er hatte, wie Thorwaldsen, „Talent zum Schlafen,“ das nur durch sein Talent für anhaltende Arbeit übertroffen ward. Bis elf Uhr arbeitete er ohne Unterbrechung. Jetzt genoß er eine Tasse Chokolade und arbeitete fort bis ein Uhr. Um zwei Uhr Mittagessen. Sein Appetit war ungeheuer. Auch wenn er über Mangel an Appetit klagte, aß er mehr als jeder andere Mann. Puddings, Süßigkeiten und Kuchen waren stets willkommen. Er saß lange beim Wein, heiter plaudernd mit diesem oder jenem Freunde beiderlei Geschlechts, denn er aß nie allein. Er trank täglich seine zwei bis drei Flaschen Wein, aber nicht wie Schiller in der Nacht zum Arbeiten, sondern zur Erholung nach dem Essen. Im Uebrigen lebte er sehr einfach. Wenn andere, weniger bemittelte Familien Wachskerzen brannten, ging er nicht von seinen zwei ärmlichen Talglichtern ab. Abends ging er oft in’s Theater, wo er regelmäßig ein Glas Punsch trank. Blieb er zu Hause, sah er stets Freunde und Freundinnen um sich. Von dem Abendessen zwischen acht bis neun Uhr genoß er nur etwas Salat oder Eingemachtes. Um zehn Uhr ging er durchweg zu Bett.“

Das Leben, die Liebenden und Geliebten, die ihn auf seinem langen, glorreichen Lebenswege begleiteten, und wie er sie in Poesie feiernd erhob – das Alles, besonders das specifische Material seines Lebens und Liebens, des Erlebten in seiner Poesie (er „machte“ nie Gedichte) ist von Lewes mit großer Genauigkeit, Klarheit und Liebe entwickelt und nachgewiesen worden. Dabei ziehen alle Sterne der deutschen goldenen Literatur-Periode, die mit ihm in verschiedene Berührung kamen, selbst englische und französische Größen – Byron, W. Scott, Bulwer, Carlyle, Thackeray, der große Napoleon u. s. w., mit ihm an uns vorüber. Könige und Fürsten huldigen ihm. Napoleon sah ihn öfter nach der Schlacht bei Jena und sagte von ihm allein: „Das ist ein Mann, voilà!“ und frug sehr oft: „Was meinte le Goeth dazu?“ Das giebt eine Menge charakteristische Anekdoten, die aber Lewes nicht, wie viele deutsche Goethographen, alle mit in sein Buch zusammenfegt: er wählte blos neue und zur Sache gehörige. Wir machen auf Einige aufmerksam, die ihn und den „alten Herrn“ charakterisiren. Als Platina in der Naturwissenschaft aufstieg, schickte man von Rußland eine Platte davon an den Chemiker Dobereiner in Jena. Goethe, damals ein passionirter Mineralog, bekam sie erst zur Ansicht, und gab sie trotz aller Bitten und Beschwerden Dobereiner’s nicht wieder heraus, so daß dieser sich endlich an den Großherzog selbst wandte.

„Laß den alten Esel zufrieden,“ sagte er. „Die Platte giebt er nun doch nicht wieder heraus. Werde um eine andere nach Rußland schreiben.“

Einmal bringt der Großherzog den König von Baiern mit zu ihm und dieser einen Orden für die Brust Goethe’s. Der König bittet, ihn als ein Zeichen seiner tiefsten Verehrung anzunehmen. „Wenn mein allergnädigster Souverain es erlaubt,“ versetzt Goethe; darauf der Großherzog:

„Alter Kerl, schwatz’ kein dummes Zeug.“

Wir erfahren auch genauer, warum Goethe mitten in der Demüthigung seines Großherzogs und Deutschlands und in der „Erhebung“ Deutschlands kein politischer Dichter ward. Der Hauptgrund ist, weil er ein Dichter war, der specielle, weil in der Politik, am Wenigsten in der deutschen, keine Poesie liegt, weil Deutschlands Pathos nicht Politik, nicht abschließende Nationalität, sondern Kosmopolitik, die Freiheit, das Wissen, die Humanität, die Kultur für’s ganze Erdenrund ist. Dabei kommt folgende Anekdote vor.

Nach dem Abzug der Franzosen reibt sich ein Philister in Jena die Hände und sagt freundlich schmunzelnd: „Nun bin ich die französische Einquartirung los, nun habe ich endlich Platz für die Russen.“

Nachdem alle Liebenden und Geliebten vor ihm dahin geschieden, naht auch dem 82jährigen Greise endlich freundlich der Tod. Kurz vorher war er noch einmal nach Ilmenau hinausgegangen, wo er vor vielen Jahren in eine Wand geschrieben:

„Ueber allen Gipfeln ist Ruh,
In allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_010.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2021)