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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Antheil an unserer Gegenwart. Ich rief sie, griff sie an, gab ihnen Zucker zu essen – sie glotzten mich mit stierem Auge an oder gaben thierähnliche Töne von sich. Eigentümlich sind die Kopfbildungen dieser armen Kinder. Während einige Kinder ungemein große Kopfe, sogenannte Wasserköpfe haben, zeichnen sich die anderer durch ungemeine Kleinheit aus. So war ein etwa zehnjähriger Knabe zugegen, dessen Kopf nicht größer, als der eines einjährigen Kindes war und ungemeine Ähnlichkeit mit einem Vogelkopfe hatte. Der Kopf eines andern Knaben glich einem Todtenkopfe, so tief lagen die Augen darin und so wenig trat die Nase hervor. Fast Alle hatten etwas Abnormes an sich; ich bemerkte dies nicht nur an der Kopfbildung, sondern auch an der übrigen Körperbeschaffenheit. Wie der Geist, so war auch der Leib schlaff. Stiere Augen, dicke, schwulstige Lippen, lange, entweder unförmlich dicke oder ganz schwache Arme, aufgetriebene Bäuche, verkrüppelte Füße bemerkte ich bei vielen dieser unglücklichen Geschöpfe. Die Meisten hatte ein stark scrophulöses Aussehen. Ein einziger Blick auf diese Armen ließ die ungeheuere Aufgabe ahnen, die sich hier die Erziehung gestellt hat. Vortheilhaft zeichneten sich die Kinder aus, die schon längere Zeit den Segen dieser Anstalt genossen hatten. Das körperliche Aussehen war frischer; die Augen hatten den stumpfsinnigen Ausdruck verloren, es sprach Leben aus ihnen. Die Kinder waren sich des Gebrauchs ihrer Glieder bewußt, die Sprache war verständlich, der Gedankenkreis zwar beschränkt, aber die Kinder zeigten, daß die Anstalt bald ihren Zweck an ihnen erreicht haben würde. Das Frühstück war beendet. Die Kinder eilten in den Turngarten hinab, um ein Weilchen in frischer Luft herumzuspringen. Wir folgten ihnen und traten auf einen großen, geräumigen, theils mit Rasen, theils mit Sand bedeckten Turnplatz. Während sich hier die Kinder unter Aufsicht der Lehrer und Wärter herumtummelten, erzählte mir Herr Oberlehrer Gläsche Einiges aus der Geschichte des Institutes. Ein Menschenfreund, der Bezirksarzt Hr. Dr. Ettmüller in Freiberg, behandelte in der 1843 abgehaltenen Versammlung sächsischer Aerzte die Sache der Blödsinnigen-Erziehung in einem längern Vortrage und lenkte die Aufmerksamkeit der Regierung auf diesen Gegenstand. Auf dem Landtage 1846 kam diese Sache wieder zur Sprache und noch im Laufe desselben Jahres begründete die Regierung diese Anstalt. Der Grund, warum man diese Anstalt in Hubertusburg einrichtete, lag darin, daß hier die Räumlichkeiten schon vorhanden und die andern nothwendigen Einrichtungen in Betreff der Bäder, Kost, Verpflegung u. s. w. am leichtesten getroffen werden konnten. Die Anstalt wuchs mehr und mehr, es wurden neue Lehrkräfte gewonnen und während bisher nur Knaben in dieselbe aufgenommen wurden, hat man neuerdings angefangen, auch blödsinnige Mädchen in das Institut aufzunehmen. Auch Ausländer, d. h. Nichtsachsen, werden jetzt gegen entsprechendes Honorar aufgenommen, Gegenwärtig zählt die Anstalt etwa vierzig Pfleglinge, welche von drei Lehrern erzogen werden. Zur speciellen Beaufsichtigung der Kinder sind ein Wärter und drei Wärterinnen da.

Die Herren Lehrer hatten nun die Güte, mir ihre Pfleglinge in stufenweiser Reihenfolge vorzuführen. Muß irgendwo individualisirt werden, so ist dies bei der Erziehung der Blödsinnigen besonders am Orte, da jeder dieser Unglücklichen gleichsam eine Classe, eine Abtheilung für sich bildet und demnach eigens beobachtet und behandelt werden muß. Im Allgemeinen unterschieden die Herren drei Grade des Blödsinns.

Der erste oder geringste Grad könnte auch mit Schwachsinnigkeit oder Dummheit bezeichnet werden.[1] Die auf dieser Stufe sich befindenden Individuen unterscheiden Bilder, vermögen die ihnen bekannten Gegenstände nach Stoff, Farbe, Ort, Form zu beschreiben, haben Gefühl für Recht und Unrecht und sind befähigt für die Anfänge des gewöhnlichen Elementarunterrichts. Der Grund, warum diese die öffentliche Schule nicht mit Erfolg besuchen können, liegt oft lediglich darin, daß der Lehrer bei seiner zahlreichen Classe sie nicht genug berücksichtigen kann; er kann nicht genug individualisiren.

Der Blödsinnige zweiten oder mittleren Grades kennt auch noch die Dinge seiner Umgebung, vermag sie auch wohl zu nennen, aber unterscheidet nur wirkliche, nicht abgebildete Gegenstände. Nahenden Gefahren weicht er, wenn auch ungeschickt, aus. Er empfindet Freude und Schmerz, wird ängstlich in fremder Umgebung und fühlt sich unbehaglich, wenn er sich verunreinigt hat.

Die Sinne des auf letzter, tiefster Stufe Stehenden sind ganz ungeübt, er sieht und hört nicht, ihm gehen daher auch alle Vorstellungen ab. Er spricht nicht, sondern stößt nur unarticulirte Laute aus. Er flieht keine Gefahr. Herr Oberlehrer Gläsche erzählte mir hierbei, daß einer dieser Unglücklichen sich die Hand am Ofen verbrannt und dennoch in nächster Minute wieder den glühenden Ofen berührt habe. Diese Armen vermögen weder allein zu essen, noch sonst irgend ein Bedürfniß anzuzeigen. Freude kennen sie nicht. Ihr Gefühlsvermögen kann nur durch heftige äußere Eindrücke erregt, werden. Sie sind meiner Meinung nach als geistig todt zu betrachten. Die Grenzen dieser drei Grade lassen sich natürlich nicht haarscharf bestimmen. Die meisten Hubertusburger Pfleglinge stehen auf der ersten und zweiten Stufe, sie sind bildungsfähig, während die auf tiefster Stufe sich befindenden höchstens, man erlaube mir den Ausdruck, dressurfähig sind. Diesen tiefsten Grad des Blödsinns zu heben ist ein Problem, dessen Lösung meines Wissens bis heute noch nicht gelungen ist. Ich glaube daher, alle die Anstalten, die sich dieser hohen Sache widmen, würden ihre schöne Aufgabe, der Menschheit zu nützen, vollkommener erfüllen, wenn sie sich nur mit der Erziehung der auf erster und zweiter Stufe Stehenden befaßten, für die auf unterster Stufe sich Befindenden aber nur Pfleg- und Versorganstalt wären. Man rette zunächst die geistig Todtkranken und dann versuche man, die Todten zu erwecken.

Da Körper und Geist in genauester Wechselwirkung stehen und da bei vielen dieser unglücklichen Kinder der krankhafte Körper die Ursache des kranken Geistes ist, so ist es ganz natürlich, daß bei der Erziehung dieser Kinder Beides mit gleicher Wichtigkeit behandelt werden muß. In Hinsicht darauf ist die Hubertusburger Anstalt auf das Trefflichste bestellt. Vor Allem leiten tüchtige Männer das Erziehungswerk und wachen mit großer Treue über die Pflege ihrer Zöglinge. Mit größter Sorgfalt ist Alles in der Anstalt auf das Zweckmäßigste eingerichtet. Die Luft ist in allen Räumen gesund und rein, ich fand alle Zimmer mit den nöthigen Ventilatoren versehen. Die Zimmer selbst sind sehr geräumig und haben eine Höhe von 14 F. Sommer und Winter gehen die Kinder unter Aufsicht eines Lehrers und der Wärterinnen täglich wenigstens eine Stunde spazieren. Erlaubt dies die Witterung nicht, so bewegen sie sich auf den langen, breiten Corridors, die sich an die Wohnzimmer anschließen. Außerdem wird jeden Tag eine Stunde geturnt. Die Kleidung der Kinder ist zweckmäßig und nett, ohne uniformähnlich zu sein. In den Schlafsälen fand ich, ich wiederhole es nochmals, die größte Reinlichkeit und ungemein reine und frische Luft, Das Lager der Kinder besteht aus Matratze, Betttuch, wollenen mit leinenen Ueberzügen versehenen Decken. Betten fand ich sehr wenige und diese waren, wie mir Herr Oberlehrer Gläsche mittheilte, auf Anordnung des Arztes gegeben worden. In jedem Saale schläft zur Aufsicht eine Wärterin, bei den größeren Knaben schläft der Wärter. Dicht neben den Schlafsälen befindet sich die Wohnung des Oberlehrers und erleichtert diesem somit die Ueberwachung und Beobachtung seiner Pfleglinge während der Nacht. Eine solche immerwährende Beobachtung ist besonders deshalb wichtig, weil viele dieser Unglücklichen Neigung zur Onanie zeigen. Die Bettwäsche wird monatlich, die Leibwäsche wöchentlich zwei Mal gewechselt, bei unreinlichen Kindern so oft es nothwendig ist. Die Kinder baden wöchentlich ein Mal, in besonderen Fällen werden auf Anordnung des Arztes besondere Curbäder angewendet. Während des Sommers baden die größeren Knaben, natürlich unter sorgfältigster Aufsicht, in einem der benachbarten Teiche, da kein fließendes Wasser in der Nähe ist. Die Beköstigung ist sehr zweckmäßig und wird fortwährend vom Hausärzte überwacht. Des Morgens erhalten die Kinder Eichelkaffee mit Semmel, um 10 Uhr etwas Butterbrod. Des Mittags bekommen sie nahrhaftes Gemüse und wöchentlich drei Mal Fleisch, um 4 Uhr abermals Butterbrod oder eine leichte Mehlspeise. In besonderen Fällen, etwa bei Krankheiten, wird natürlich auch entsprechende

  1. Dummheit, Bornirtheit, das, was der Kladderadatsch „höheren Blödsinn“ nennt, ist leider, trotz unserer vielgerühmten Volksaufklärung, weiter verbreitet, als man denkt. Die letzte Kometenfurcht hat dies genugsam bewiesen, und Kladderadatsch hat ganz Recht, wenn er singt:

    „Wir bleiben frisch und munter,
    Der Blödsinn geht nicht unter.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_162.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)