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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

der Charakter des Weibes ist (varium et mutabile semper femina!), so besitzen die Hysterischen diese Eigenschaft jedenfalls in gesteigertem Maße.

Wie heilt die Hysterie? Sie verschwindet in der Regel von selbst nach erreichtem Schwabenalter, d. h. um das 45. bis 50. Lebensjahr. Wenn Frauen in Lebensverhältnisse kommen, die sie nöthigen, sich tüchtig in praktischen Geschäften abzuarbeiten, oder wenn sie in befriedigender Ehe reichen Kindersegen haben und damit die Nothwendigkeit eintritt, Tag für Tag für Erziehung, Kost, Kleidung und Zusammenhalten des Hausstandes zu sorgen, so hören die Nervenzufälle gewöhnlich auf. Auch auf kürzere Fristen schweigen dieselben, z. B. wenn die Patientin eine Reise, bezüglich Badereise macht, von außergewöhnlichen Ereignissen in Anspruch genommen wird, einen neuen Doctor angenommen, ein neues Logis be- oder ein neues Kleid angezogen hat. Reichlicher dargebotene Gelegenheit, sich auszusprechen (z. B. eine Kaffeegesellschaft) oder sich durch Schelten Luft zu machen (z. B. gegen ein Dienstmädchen, das keine schnippischen Antworten bereit hat), erleichtern gleichfalls das Uebel, weil sich die Nerven durch die Sprache Luft machen können. Wo ein bestimmtes Einzelorgan durch seine Krankheit jene Nervenzufälle veranlaßte, da verschwinden dieselben begreiflicherweise, sobald das Organ wieder in gesunden Zustand zurückgekehrt ist.

Die ärztliche Behandlung der weiblichen Nervenschwäche folge diesen Fingerzeigen der Natur. Zuvörderst versteht es sich vor Allem, daß untersucht, auf’s Genaueste untersucht werde, ob nicht ein bestimmtes Organ, insbesondere im Uterus-System krank sei, und wenn dies der Fall, daß es auscurirt werde. Dies dauert aber, wohlgemerkt, oft Monate lang, ehe man bei eingewurzeltem Uebel zu Stande kommt. Und weil eben so viele Frauenzimmer sich den dazu nöthigen unerläßlichen Proceduren (Instrumenten, Aetzmitteln etc.) nicht unterwerfen oder doch derselben sehr bald überdrüssig werden, eben deshalb gibt es soviel Hysterische, mit ungeheilten, widerwärtigen Uebeln innerer Theile behaftete und dadurch zu ewiger Welkheit, Siechheit und Gemüthsverstimmtheit verdammte Frauenzimmer. An dieser Behauptung ist nicht ein Pünktchen übertrieben! – Gestörte Darmfunctionen fordern ebenfalls stete Berücksichtigung bei solchen Kranken. Dazu dienen besonders die Klystierspritze (s. Gartenlaube Jahrg. 1855. Nr. 21.) und eine geeignete Körperbewegung. Den Damen, welche an Vapeurs leiden, pflege ich anzurathen, daß sie nach Tisch ein Stündchen spazieren gehen, aber ohne Begleitung. – Auch für die andern Ausscheidungen ist regelmäßig Sorge zu tragen. – Eine Hauptsache ist und bleibt sicherlich die psychische (seelische) Behandlung der Hysterischen. Man muß daher streben, solchen Frauenzimmern einen inneren moralischen Halt, einen Lebensmuth und eine Willensenergie zu verschaffen, damit sie die krankhaften Gefühle und allmählich die krankhafte Empfindlichkeit darnieder halten und sich des ewigen Bimbelns und Erbärmlichthuns (welches zuweilen förmlich zur Monomanie wird) schämen lernen! Dies ist freilich leichter gesagt, als gethan. Das bloße Predigen: „Sie müssen Selbstbeherrschung lernen!“ thut es nicht. Wo eine innere Hohlheit zu Grunde liegt, die eben kein anderes Mittel kennt, um sich der Welt bemerklich und merkwürdig zu machen, als das ewige Kranksein und Klagen, da scheitern wohl alle Besserungs-Versuche des Arztes, welcher hier gleichsam als zweiter Erzieher, Nacherzieher auftritt. So lange noch innere organische Krankheitszustände (am gewöhnlichsten Uterinkatarrhe) das Nervenleiden unterhalten, wie ein steter innerer Dorn, da ist es auch schwer, Selbstbeherrschung auf die Dauer zu erzielen. Aber bei Frauen, welche noch einigen Kern und Fond in ihrem Geiste besitzen, vielleicht nur durch fehlende oder unpassende Beschäftigung nervös wurden und deren organische Uebel ganz oder größtentheils beseitigt sind, da vermag das consequente Zureden und Ermuthigen eines Arztes, welcher ihr Vertrauen genießt, doch recht sehr viel. Und wenn es auch eine schwere Arbeit ist, so erscheint sie mir doch lohnender und die Patientinnen selbst liebenswürdiger, als die Aufgabe, die hypochondrischen Männer (welche das Analogon der hysterischen Frauen bilden) von ihrer unleidlichen Selbstsucht und dem steten ängstlichen Beobachten ihres lieben körperlichen Ichs zu curiren! Vor Allem sorge man, daß die Patientin reichliche und regelmäßige praktische Beschäftigungen habe: im Hauswesen oder mit Garten- und Blumencultur, Landwirthschaft, Fegen, Räumen, Ordnen u. dgl.; zur Vermehrung der körperlichen Bewegung sind auch (falls nicht etwa Uterinleiden es verbieten) Turnen, Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Ball- und Reifenspiele, selbst ein Tänzchen, weniger gern Reiten zu empfehlen. Aber auch der Geist muß sich austurnen; sei es, auf der niederen Stufe, durch’s Ausschwatzen, Scherzen und Lachen, auch wohl Schelten unter die Dienstboten hinein, sei es, in höherer Sphäre, durch Beschäftigung mit Kunst (Singen vor Allem, auch wohl Clavierspielen, was jedoch leicht übertrieben wird, oder Malen, am liebsten Landschaftszeichnen in der freien Natur u. s. w.) oder mit der Wissenschaft (praktische Botanik und andere Naturwissenschaften, Geographie, Astronomie, Geschichte u. s. w.). Stets aber muß dies auf ernste Weise, nicht tändelnd geschehen. Es ist ganz falsch, unsere Damen durch das Schreckwort „Blaustrumpf“ davon abzuhalten; denn bei dem heutigen Bildungsgrade sind viele derselben befähigt zu solchen Studien, namentlich wie sie heutzutage popularisirt sind, und fühlen durch dieselben eine heilsame geistige Befriedigung. Auch Sprachstudien (besonders mit vorwaltender Conversation) sind zu diesem Zwecke zu empfehlen. Noch mehr oft Reisen, welche den Menschen geistig wie körperlich ausarbeiten und verjüngen, mit neuem Stoff füllen. (Freilich taugt das Fahren und Klettern nicht für Uterinkranke!) – Die Hauptsache bleibt immer, eine solche Thätigkeit für unsere Patientinnen zu finden, welche das Gemüth befriedigt, daher die beste eine solche ist, welche der Welt oder der Familie Nutzen bringt und Freude am eigenen Tagewerk hinterläßt!

Ebenfalls aus psychischen Gründen ist es nothwendig, daß der Arzt auch gegen die hundertfältigen Beschwerden und Zufälle solcher Nervenkranken immer lindernde Mittelchen bereit hat; denn er erhält sich damit im Vertrauen und darf nur nach und nach dazu schreiten, sie entbehren zu lehren. Und es müßte ein Arzt (von welcher Schule er auch sei) doch ganz ohne Erfindungsgabe und Routine sein, wenn er nicht immer etwas – und am liebsten immer wieder etwas Neues – für seine Hysterischen zu verordnen wüßte! –

In diesem Umstände liegt auch der große Einfluß, welchen die Homöopathie bei solchen Kranken gewonnen hat. Abgesehen von der sublimen Idee, Krankheitsnullitäten durch Arzneinullitäten (Aehnliches mit Aehnlichem) zu bekämpfen, so bringt die Art der homöopathischen Praxis mit sich, daß auf jedes Symptom großer Werth gelegt wird, was der wissenschaftliche, mit der Diagnose „Hysterie“ sich begnügende Arzt oft verabsäumt, und daß für jedes Symptom auch wieder ein besonderes Mittelchen gefunden wird. Da nun die meisten hysterischen Zufälle früher oder später von selbst verschwinden: so hat hier das Mittelchen „geholfen.“ Treten nun auch neue Zufälle ein, nun, so paßt eben wieder ein anderes Mittelchen! Und so kann es Jahre lang fortgehen, ehe beide Theile es überdrüssig werden. Die Homöopathie ist für diese (und manche ihnen entsprechende) Kranke eine ganz weltkluge, schier geistreiche Erfindung. Sie gehört freilich nicht zur wissenschaftlichen Medicin, sondern zur praktischen Anthropologie (angewandten Menschenkunde), als eine Kunst, mit kranken Menschen umzugehen und sie zu trösten und hinzuhalten. Aber so lange nicht alle Menschen so vernünftig sind, wie sie Herr College Bock haben will, und wie etwa die meisten Leser der Gartenlaube sein mögen; – so lange neunzig vom Hundert mehr von Gemüthseindrücken und Einbildungskraft, als von verständigen Erwägungen sich leiten lassen; – so lange noch Unzählige das Kranksein als etwas von Außen Angeflogenes ansehen, was durch einen ärztlichen Bonzen und Sündenabnehmer hinweggezaubert werden soll: – so lange hat die Homöopathie gerade so viel Recht, wie jede andere Kunst, die Leute an der Nase herumzuführen. Nun, und solcher Künste gibt es heut zu Tage noch viele andere. Wer ihnen nicht verfallen will, der muß sich selbst zusammennehmen und auf eigenen Füßen stehen lernen!

Nun lebe wohl, geliebter Leser. Ich schreibe nicht gern anonym, aber heute muß ich es. Denn wenn meine Damen erführen, daß Ich es bin, der so aus der Schule geschwatzt hat: da möchte mir’s übel ergehen!

Dr. –r.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_179.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)