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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Er blickte in die Grube, die sie aufgescharrt hatten. „Eine Leiche!“ rief er mit Entsetzen.

„Und hier der Mörder!“ sagte kalt der Unheimliche. „Die ewige Gerechtigkeit in ihrem unerschütterlichen Fortschreiten und das eigene Gewissen in seinem unwiderstehlichen, dem blöden Menschenauge oft als Wahnsinn sich darstellenden Drange, haben ihn hierher gebracht, in die Nähe seines Opfers, um selbst ein furchtbareres Opfer seines Verbrechens zu werden.“ – Er wies auf den Baron Benzing oder Max Urner oder wie sonst der Name des Menschen war.

Die Kraft des Verbrechers war gebrochen. Er wollte aufspringen, sank aber wieder nieder. Die Büchse, die er noch einmal im Wahnsinn der ohnmächtigsten Verzweiflung hatte emporheben wollen, entsank seiner Hand. Auf seiner Stirn stand kalter Todesschweiß; sein Gesicht trug die Farbe einer Leiche.

Der Baron Lauer wandte sich an den Herrn von Steinhaus, den Wirth der Gesellschaft, „Mein Herr,“ sagte er sehr ernst, fast befehlend, „wir sind hier auf Ihrem Grund und Boden. Sie werden die Güte haben, durch Ihre Leute die Leiche und den Mörder bewachen, und die Gerichte herbeirufen zu lassen – Und unsere Jagd, meine Herren?“ fuhr er fort. „Ah, Sie haben wohl keine Lust, sie fortzusetzen? Ich kann es mir denken. Aber mir werden Sie es erlauben, Herr von Steinhaus? Auf Wiedersehen, meine Herren! Auf Wiedersehen! – Louis!“ Er winkte seinem Jäger, die beiden Schweißhunde zu koppeln. Die Thiere litten es geduldig. Dann ging er in den Wald; der Jäger und die Hunde folgten ihm.

„Wer ist der Mensch?“ fragten sich die Zurückgebliebenen.

Eine Stimme aus dem Walde antwortete ihnen: „Sein Gewissen! Oder nennen Sie mich auch einen Polizeibeamten!“ –




Der Verbrecher konnte den Mord nicht ableugnen. Seine Untersuchung und auch – seine Verurtheilung dürfen keinen Gegenstand der bloßen flüchtigen Unterhaltung bilden. Oder dürfte meine Erzählung Anspruch darauf machen, mehr als für diese zu dienen?




Ferdinand Freiligrath.
(Lebensskizze mit Portrait.)


Als ich im Juli 1838 mit einer Empfehlung von Fouqué aus Halle nach Berlin übergesiedelt war, galt es vor allen Dingen, Chamisso persönlich kennen zu lernen. Sein speciellster Freund und Biograph, der alte, getreue Julius Eduard Hitzig, damals literarischer Mittelpunkt Berlins, führte mich zu ihm unten in der Friedrichsstraße, unweit des Halleschen Thores, und ließ mich mit ihm allein. Der kleine, alte, in seiner grauen, engen Jacke und mit dem langen, weißgrauen Haar hinter Büchern auf dem Sopha sitzende ehrwürdige, leidende Greis schüttelte grimmig sein Haupt, als ich ihn wegen meiner ihm zugeschickten Gedichte befragte. Ohne Hehl und offen erklärte er sie für Maculatur, was sie wirklich waren und geblieben sind. Aber es ging mir nicht allein so; er sagte, nach Ueberwindung eines seiner furchtbaren Hustenanfälle, daß wir uns Alle könnten begraben lassen. „Da nehmen Sie dieses Buch mit!“ rief er, „und sehen Sie, wie man jetzt singen muß.“

„Gedichte von Ferdinand Freiligrath.“ Ich las sie zu Hause durch, laut, wiederholt, und dankte Chamisso und diesem Dichter, daß sie mich auf einmal von der Einbildung vieler Studenten und Candidaten gründlich geheilt. Als ich dem ehrwürdigen Vater des damaligen Musen-Almanachs den Band zurückgeben wollte, machten sie eben in seinem Hause Anstalt, ihn zu begraben.

Er wird eben so wenig sterben, als Freiligrath. Aber damals ging mit ihm eine lyrische Epoche unter die Erde, und in meiner Hand hielt ich den von ihm freudig und begeistert erkannten und anerkannten Apostel einer neuen, in Wort und Form, Tonfall und Reim, Anschauungsweise und Empfindung gewaltigen, weiten, die ganze Welt mit ihren fremdesten und fernsten Klängen reimenden, kosmopolitischen Lyrik.

Die einzeln und zerstreut früher erschienenen Gedichte waren, wenigstens in unserm damaligen Kreise, mehr wie originelle Curiosa angesehen worden. Die erste Gesammtausgabe von 1838 aber gab dem Dichter mit einem Male eine Stellung ersten und ganz eigenthümlichen Ranges unter den deutschen Lyrikern.

Wir sahen ihn um diese Zeit zum ersten Male im Portrait, einen feisten, kraftstrotzenden, großäugigen, vollblühenden Jüngling, der in Amsterdam Kaufmann gewesen und kurz vorher in eine ähnliche Stellung nach Deutschland zurückgekehrt war. Später trat er aus seinem still gewachsenen Ruhme plötzlich eine Zeit lang in die Tagespresse: er war ja auf einmal der deutsche Dichter, der von Preußen Pension bezog. Kurz darauf neue Ueberraschung: „Glaubensbekenntniß,“ Aufgeben der Pension, Anklage, Flucht. Wir finden den Schöpfer einer neuen, grandiosen, deutschen Lyrik in einem dunklen Hofe einer dunkeln Straße der City von London hinter dem Contobuche.

März 1848: Freiligrath in einem Flammenmeere deutscher Begeisterung, in Aller Herzen, in Hunderttausenden von Exemplaren in Aller Händen, auf allen Straßen jubelnd ausgeschrieen und – Freiligrath im Gefängnisse.

Aber freigesprochen! Richtig. Die deutsche Nation ehrt und liebt ihn mit warmem Herzen bereits in der sechzehnten Auflage, aber diesen edelmüthigsten und volksthümlichsten Dichter selbst hat sie seit zehn Jahren nicht auf deutschem Boden sehen können, und wer ihm seitdem die Hand reichen wollte, mußte weit in den Nordosten Londons hinaus, oder ihn im Geschäft hinter der Londoner Börse stören. Wer ihn einst in St. Goar unmittelbar am Spiegel des lichten, lachenden Rheins besuchte, und jetzt über einen schauerlichen Kirchhof vor einem mit Einsturz drohenden Thurme vorbei wandern muß, um ihn in seinem grünem Versteck aufzufinden, dem schlägt das Gewissen allerdings qualvolle Wunden bei Vergleichung der neuen, freien, einheitlichen Bestrebungen Deutschlands und dieser alten, eingewohnten, wenn auch so freundlichen Exilwohnung eines deutschen Dichters und anderer deutscher Dichter und Männer. Kaum hat sich hier und da eine klägliche, schwächliche Zeitungsstimme erhoben, daß „dem Vernehmen nach“ eine Art von Amnestie in Aussicht stehen solle. Und als diese Aussichten verschwanden, blieben auch die sporadischen Amnestie-Gerüchts-Notizen in den Zeitungen aus. Mit seinen eigenen Organen sprach das Volk kein kräftiges Wort. Doch das soll uns nicht zu Täuschungen verleiten. Das Volk hat auch ein Herz-Organ, mit welchem es während der letzten zehn Jahre öffentlich zu sprechen verlernen mußte. Aber es war nie todt, es schlug und redete sehr viel und sehr heiß im Stillen, und selbst Geheime Räthe fragten sehr ernstlich, aber freilich sehr im Stillen den von London Kommenden: „Was macht Freiligrath?“ Und eine schöne, liebende Braut schrieb unlängst an ihren Bräutigam:

„O lieb’, so lang’ Du lieben kannst,
O lieb’, so lang’ Du lieben magst,
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo Du an Gräbern stehst und klagst!“

und setzte hinzu, daß sie den Dichter solcher Lieder freudig und herzlich küssen würde, wenn und wo sie ihn fände.

Und wie viele edle Frauen und Jungfrauen Deutschlands würden sie darum beneiden! Wer könnte die Jünglinge und Männer zweier Generationen zählen, die durch den Zauber seiner bald herkulisch, bald apollonisch schönen, kräftigen und elastischen Gedankenschritte und Versrhythmen erhoben, gestärkt und geläutert wurden? Sie Alle würden das wärmste Wort der Verehrung, den kräftigsten Händedruck für ihn haben, könnten sie ihn auf dem Boden seines Vaterlandes begrüßen.

Keine Sentimentalitäten. Deshalb sprechen wir hier die kalte Thatsache aus, daß sich unser Dichter in sein Vaterland, wie es jetzt ist, eben so wenig zurücksehnt, als die meisten andern seiner Schicksalsgenossen. Ein Mann, dessen ganzes Leben ununterbrochen in edelster Männlichkeit, bürgerlicher Ehrenhaftigkeit und geschäftlicher Tüchtigkeit blühete und fruchtete, dessen Poesien im besten Herzblute seines Volkes pulsiren, kann nicht – amnestirt werden. Wer mit Ehren in die Vierziger gekommen, zu dem kann man nicht noch endlich zu guter Letzt sagen: Wir wollen Dir das Verbrechen verzeihen, daß Du kein Heuchler geworden und gewesen.

Die wirkliche Persönlichkeit des Dichters wird sich also vorläufig nicht in Deutschland einfinden. Wir suchen diesen Mangel

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_618.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)