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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Stadt, dort erhob sich noch immer der viereckige, uralte Thurm der einstigen Römerfeste, der Curia Rhaetorum, die, wie ihm sein Vater damals erklärt hatte, mit weiser Berechnung auf diesem Flecke angelegt, die drei Thäler zu gleicher Zeit beherrscht und so dem Angriff von allen Seiten zu trotzen vermocht hatte.

Die fernste Vergangenheit, der Gedanke an seine Jugend, an seine Eltern und an das Jüngsterlebte schmolzen in der Seele des Grafen in eine wehmüthige Empfindung zusammen. Er fühlte es, welch ein Atom der Mensch sei, und sehnte sich doch mehr als je zuvor nach einem festen Anhalt für sein flüchtig hinschwindendes Dasein. Es schmerzte ihn, daß er den Weg nach seiner Heimath, nach seinem Hause gar nicht kannte, und es war eine schmerzliche Neugier, mit welcher er aus seiner Reisekalesche in die Gegend hinaussah, die Straße verfolgend, welche man ihn führte, und nach dem kleinen Thurme an seinem Hause spähend, dessen er sich wie eines Wahrzeichens zu entsinnen meinte. Der Bursche, der ihn mit fröhlichem Peitschenknalle die lange Pappelallee von dem Flecken Malsanz nach der Stadt hinauffuhr, der so sicher seine Pferde durch das mit Thürmen flankirte alte Stadtthor und durch die engen, gewundenen Straßen leitete, der kannte das gräflich Rottenbuel’sche Haus, der wußte es zu finden. Der Besitzer des Hauses hätte das kaum vermocht.

In der Stadt war Lebens genug. Die Bürger standen vor ihren Thüren, die letzte Abendstunde mit einander zu verplaudern, an den Brunnen tränkten italienische und romanische Kärrner ihre müden Thiere, welche morgen den Weg über das Gebirge wieder zurücklegen sollten, und schäkernde Burschen mit dunkel glänzenden Augen, die bräunliche Sammetjacke auf gut Italienisch über die Schulter geworfen, hielten sich zu den Mägden und Weibern, die ebenfalls an den Brunnen beschäftigt waren oder mit den vollen Körben auf dem Kopfe von den Wiesen und Gärten in die Stadt zurückkehrten.

Nun bog der Wagen um eine Ecke, nun fuhr man über die Brücke, und nun erblickte Graf Joseph auch das wilde Bergwasser, das lärmend und brausend seine weißen Gischtmassen zwischen den schmalen Ufern herniederrauschen ließ zum nahen Rhein. Das war die Plessur, die von den Bergen herabkam, und dort am andern Ufer, das war es, das war sein Vaterhaus, seiner Väter Haus zu Chur.

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, sie waren ihm feucht geworden. Er hatte sich das Haus größer, höher, den Thurm so mächtig gedacht. Er seufzte unwillkürlich. Auch das Haus war zusammengeschrumpft wie alle seine Ideale, es war nicht das, was er davon erwartet hatte.

Je mehr sie sich aber dem Hause nahten, je deutlicher er es unterscheiden konnte, um so besser fing es ihm zu gefallen an. Die grünen Läden an den hohen Fenstern der sauber gehaltenen weißen Wände, die schönen Pappeln am Eingange des Gartens, die wohlgeschorene Hecke und die zugespitzten Buchsbaum-Pyramiden verriethen, daß hier treulich Sorge für ihn getragen worden sei, und da er fühlte, wie Liebe hier für ihn gewaltet, spann sich leise ein Faden von seinem Herzen zu seiner Heimath hinüber.

Der überraschte Hauswart hatte Thor und Thüren seinem fremden Gebieter geöffnet, und Graf Joseph fand sich am Abende einsam in dem Hause, das er zum ersten Male als das seine betrat. Er hatte sich das Zimmer seines Vaters zum Aufenthalte ausgewählt, sein Kammerdiener sorgte für seines Herrn Bedürfnisse und Bequemlichkeit; indeß die leeren Räume ließen sich nicht beleben, und der Graf kannte Niemand in Chur, den er hätte auffordern mögen, ihn zu besuchen. Seine Blutsverwandten waren in dieser Zeit schon lange auf ihren Besitzungen in den Bergen und in den hochgelegenen Thälern; und die einzelnen Personen aus seiner Vaterstadt, mit welchen er bei ihren gelegentlichen Besuchen in Frankreich in flüchtige Berührung gekommen war, fühlte er sich nicht gestimmt zu sehen.

Als es Nacht geworden war, brachte sein Kammerdiener ihm das Licht in’s Zimmer. Er setzte den schweren Armleuchter auf den Tisch, daneben eine Flasche des alten Weines, der seit fast einem Menschenalter ungenutzt in dem gräflichen Keller gelagert hatte, und verließ dann das Gemach.

Der Graf warf einen flüchtigen Blick nach dem Tische, und der alte Leuchter hellte die ganze Vergangenheit für ihn auf. Er hatte ihn als Kind oftmals betrachtet, den emporschwebenden Genius, der, aus schwerem Silber gearbeitet, die Fackel mit den drei Lichtern emporhielt. Sein Vater hatte dem Grafen erzählt, daß dieser Leuchter ein altes Besitzstück seines Hauses sei, ein Werk von Benvenuto Cellini’s kunstgeübter Hand. Einer seiner Ahnen, Graf Ubald von Rottenbuel, der lange in päpstlichen Diensten gestanden, hatte es aus Italien mitgebracht, als er sich in die Heimath zurückgezogen und sich ein Weib genommen hatte. Er hob den Leuchter empor, er besah prüfend die schöne Arbeit, aber es war nicht das Kunstwerk, das ihn beschäftigte. Er hätte Jemand haben mögen, dem er die Geschichte dieses Leuchters, die Geschichte des Grafen Ubald und die ganze Herkunft und Abstammung seines Hauses hätte erzählen können, wie sein Vater sie ihm hier in diesem Zimmer einst vorerzählt. Das alte Erbstück der Familie, der alte Besitz machten ihn sehnsüchtig, denselben weiter fortzuvererben, gaben ihm ein Verlangen nach Weib und Kind.

Er fuhr mit der Hand über die Stirn, über die Augen. Er wollte die Gedanken bannen, er wollte vielleicht auch ein Bild verscheuchen, das sich ihm vor die Augen drängte; aber was er auch beginnen mochte, er wurde seiner Stimmung nicht Meister, er konnte in dem einsamen Hause kein Behagen finden, und die Sehnsucht nach einem Menschen, dem er sein Herz erschließen, an den er sich lehnen könne, brachte ihn zu dem Entschlusse, sich schon am folgenden Morgen in aller Frühe auf den Weg zu machen, um sein Stammschloß in den Bergen noch am Abende zu erreichen, seiner Schwester von dort einen Boten zu senden und sie von seiner Ankunft zu benachrichtigen.

Am Abende war er als ein Fremder in sein Haus gekommen, am Morgen erwachte er in demselben mit der Empfindung des Besitzers. Er glaubte hier eine Vernachlässigung, dort die Möglichkeit zu einer Verbesserung zu bemerken. Obschon er sich gleich auf den Weg zu machen beabsichtigte, ließ er den Hauswart kommen und gab die Anweisung zu einigen Veränderungen, die er sogleich ausgeführt zu haben wünschte. Als er seine Befehle aussprach, dünkte es ihn nicht, als habe er damit etwas Besonderes gethan; da aber der Hauswart in die Details des zu Beschaffenden einging, fiel es dem Grafen auf, daß er sich darum gekümmert habe, und obschon diese Art der Vorsorge ihm in dem Augenblicke als etwas Lästiges erschien, knüpfte es ihn bereits, ohne daß er es gewahrte, an die Reihen seiner Vorfahren an, daß er für die Stätte Sorge trug, welche sie begründet hatten.

Damals war der Weg, der von Chur aus über den Paß des Julier nach den Quellen des Inn in das Engadin führte, noch ein sehr beschwerlicher. Schmale, steile Pfade, nur dem sicheren Schritte des vorsichtigen Bergpferdes und dem festen Fuß des rüstigen Wanderers zugänglich, stiegen über die Felsen hinauf, leiteten an tiefen Abhängen vorüber, in die Thäler hinunter und verloren sich bisweilen ganz, so daß der Wanderer selbst die Stelle zu suchen hatte, von der aus er weiter vorwärts kommen konnte.

(Fortsetzung folgt.)




Die falschen Spieler, von Knaus.


Gute Kunstwerke bedürfen, um recht genossen zu werden, selten einer erläuternden Beschreibung, und schwer ist es, wo das Bedürfniß einer solchen vorliegt, sich nicht den Vorwurf zuzuziehen, den Goethe so treffend den Auslegern macht:

Im Auslegen seid frisch und munter,
Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter!

Den nachstehenden Andeutungen über das Knaus’sche Bild möge deshalb die Verwahrung vorausgeschickt werden, daß sie nur eine aus öfterer Betrachtung des Originals hervorgegangene Schilderung persönlicher Eindrücke zur Ergänzung der leider nur unvollkommenen Holzschnittnachbildung sein sollen.

Knaus hat in seinen „falschen Spielern“ den glücklichen Griff gethan, einen Gegenstand so aufzufassen, daß die Handlung wie die Charakteristik der Personen auf den ersten Blick deutlich hervorspringt und durch die feine malerische Durchbildung der eingehenden Beachtung ergiebigen Stoff, zum Genuß der Einzelheiten,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_036.jpg&oldid=- (Version vom 7.10.2021)