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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

entbehrt, sondern auch im Hochsommer fast alles pflanzliche Leben stille steht und die ganze Vegetation eine Art Sommerschlaf durchmachen muß?

Es ist wohl nicht ohne Interesse, in einem solchen Gebiete, wie etwa in der ungarischen Pußtenwelt, in welcher der von der umgebenden Natur ausgehenden Eindrücke so wenige sind, jenen Pflanzenformen nachzuspüren, welche im Stande waren, auch dort noch die Phantasie anzuregen und sich in die künstlerischen Schöpfungen des Volkes zu verweben. – Daß sich in dem aus tiefgründigem Alluvialboden bestehenden Gelände der ungarischen Tiefebene, wo auf viele, viele Meilen weit kein Stein unter dem Hufe des Pferdes erklingt, wo, so weit das Auge blickt, kein Fels aus dem weißen lockeren Sand oder dem dunklen fruchtbaren Humusboden aufragt und wo daher alles Material für die bildende Kunst fehlte, diese selbst nicht zu entwickeln vermochte, darf uns wohl nicht Wunder nehmen, und wenn wir daher dort den Einfluß der localen Natur auf die Kunstschöpfungen ermitteln wollen, so werden wir dabei fast einzig und allein auf die Musik und Poesie des ungarischen Volkes hingewiesen.

Pflanzengruppe aus einer ungarischen Pußta, „Waisenmädchenhaar“, fruchttragende Anemonen, krautige Astragalusarten und distelähnliche Jurinea mollis.

„Die Natur ist wie ein großes elegisches Gedicht. Ihr ganz hingegeben, versinkt auch der Mensch in eine elegische Stimmung,“ und es ist wohl nichts natürlicher, als daß der Bewohner der Pußta, der sein ganzes Leben lang in der freien Natur zu Hause ist, die elegische Stimmung, welche er von der ihn umgebenden Welt empfängt, auch in alle seine Lieder hineinlegt. So wie die Stimmen des Waldes in einem Waldgebiete, ebenso mußten auch die Stimmen der Pußta zur Nachbildung anregen, und das Lied des ungarischen Fischers, der tagelang vom schilfbewachsenen Ufer der Theiß träumend auf den Wasserspiegel hinausblickt und dort allein das melancholische Rauschen des Röhrichts und den klagenden traurigen Gesang der im Schilf hausenden Wasservögel an sein Ohr schlagen hört, harmonirt gerade so mit der umgebenden Natur, wie das in rhythmischen, heiteren Klängen sich bewegende Volkslied des Bergbewohners mit jenen Tönen im Einklang steht, die aus dem von plaudernden und murmelnden Bächen durchrieselten und von lustigen befiederten Sängern bevölkerten grünen Wäldern herausklingen. – Durch alle Volkslieder der Ungarn zieht sich wie ein rother Faden ein ganz eigenthümlicher schwermüthiger Anklang von Anfang bis zum Ende, und aus ihren nationalen Weisen klingt uns überall unverkennbar jene schwermüthige Musik entgegen, welche die Natur auf der Pußta aufspielt. Bald klagt die Fiedel gleich dem Liede des im Schilfe hausenden Rohrsängers, während das Cymbal gleichzeitig das Flüstern und Lispeln des im Herbstwind bewegten Röhrichts nachahmt; dann wieder glauben wir den Sturmwind zu hören, wie er in langen gezogenen Tönen bald schwellend, bald fallend über die Steppe dahinbraust; und aus den hinschwirrenden Klängen tönt dann plötzlich gleich dem aneifernden Rufe eines auf flinkem Rosse durch die Pußta jagenden Csikos oder gleich dem durch Nacht und Sturm hörbaren Wiehern seines Pferdes ein plötzlicher gellender Aufschrei heraus. – So malen uns die ungarischen Nationallieder mit Tönen die Scenen der Pußtenwelt; – aber bei weitem schärfer noch als in der Musik spiegelt sich die umgebende Natur in den Texten ab, welche den ungarischen Volksliedern zu Grunde liegen. Der Bewohner des Alfölds[1], der seine Heimath geradeso liebt, wie der Schweizer seine Alpen, weiß dem Flachlande eine Menge Reize abzugewinnen, die er in seinen Poesien verherrlicht und zu Bildern und Vergleichen verwendet, und während der Sohn eines Bergrevieres, wenn er zum ersten Male in die trostlose monotone Ebene tritt, von dem Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit erfaßt wird, fühlt sich der Mann der Pußta von ihrem Anblicke gehoben und begeistert, und mit schwungvoller Rede bricht der magyarische Dichter Petöfi, der das Pußtenland zwischen Theiß und Donau seine Heimath nannte, in einem Liede, in welchem er die Schönheit der ungarischen Niederung preist, in die Worte aus:

„Nieder-Ungarns meeresebne Gegend
Nenn’ ich meine Heimath, meine Welt. Befreit
Fühlt die Seele sich aus Kerkermauern,
Sah ich dort der Ebene Unendlichkeit.“

Und wie aus dem Bisherigen deutlich erhellt, daß der Totaleindruck der Pußtenwelt die künstlerischen Erzeugnisse der Bewohner wesentlich zu influenziren vermochte, ebenso spricht sich auch aus zahlreichen Zügen der ungarischen Poesien unverkennbar die Thatsache aus, daß auch concrete Erscheinungen, welche dem ungarischen Tieflande eigen sind, die Phantasie anzuregen und auf die poetischen Erzeugnisse des magyarischen Volkes Einfluß zu gewinnen im Stande waren.

Bei dem Bilderreichthum der ungarischen Poesie darf es uns nicht Wunder nehmen, daß sich ein reicher Kranz von Blüthen in die Dichtungen hineingewebt findet. – Zunächst waren es wohl Gewächse der Gärten: Rosen, Tulpen, Lilien und andere Zierpflanzen, welche als Motive Verwendung fanden, aber auch die heimischen der Pußta ursprünglich eigenthümlichen Pflanzen finden wir in jenen Kranz verflochten, und die üppig aufschießende blauköpfige Distel, die schlanke, in den ungarischen Pußten ungemein kräftig wuchernde Nachtkerze, die azurne Kornblume, das Veilchen, die Espe und Weide, das Schilfrohr und der für die öden Felder

  1. Alföld wörtlich so viel als Niederland.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_045.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2020)