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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Der Aengstliche wurde blaß, aber unter allgemeinem Gelächter wieder roth, so daß er sein Mißtrauen gegen die seltsame, lange Locomotive im Vertrauen auf die Andern und den Champagner aufgab und in die inzwischen vorgeschobenen, offenen Wagen mit einstieg. Es waren blos Kasten auf Rädern mit hölzernen Bänken, unten mit Strohmatten beteppicht. Um uns Muth einzuflößen, erfuhren wir, daß erst nur eine kleine Ein- und Rückfahrt zwischen der ersten Station unter Edgeware Road gemacht werden sollte. Unser Locomotiv-Maulwurf hörte also plötzlich auf zu zischen und zu spucken, er unterdrückte seine Gefühle, hielt den Dampf-Athem an und schob uns ganz zärtlich und spielerig einige hundert Fuß in den Abgrund hinein.

Abgrund! Es klingt so schauerlich. Und der Abgrund, der Tunnel sieht doch so hübsch aus in seiner ewigen, glänzenden Gasbeleuchtung, in der man jeden Stein des meisterhaften Mauergewölbes sehen und bewundern kann. Und dann die lange, enge, lichte Schlucht! Das ebene Hinrollen ohne Puffen, Zischen, Pfeifen und Puhsten. Es war ein ganz eigenthümliches Gefühl, das ich weiter nicht schildern kann. In einigen Minuten waren wir allerdings schon am Ziele, aber da drangen neue Empfindungen von der breterbedeckten Station herab. Wir sahen und hörten das Stampfen und Rollen der Oberwelt durch die Ritzen, durch welche Tageslicht und Menschenaugen neugierig herabforschten voller Wunder, daß hier unten Maulwürfe mit Dampf durch die Erde fahren.

„Den Rückweg wird mein Drache wie ’ne gewöhnliche Locomotive machen,“ rief der Treiber.

Sofort schrillte es durch den Tunnel, dicht an unseren Ohren, wie drei Dutzend aufkreischende weibliche Discant-Gurgeln. Dampf und heiße Asche umpfauchten uns erstickend, tosend, rasend wie in einem echt russischen Dampfbade. Einige ängstliche Naturen schrieen aus Leibeskräften dazwischen, der Ingenieur und die bereits Eingeweihten lachten -– und ehe wir uns recht besannen, flogen wir auch schon wieder heraus an’s Tageslicht, um zu erfahren, daß sich Directoren und Ingenieur blos den Spaß gemacht hatten, uns auf diese Weise den hohen Werth der Untergrund-Locomotive recht anschaulich zu machen, die Wohlthat der Erfindung, mit der Locomotive ohne Dampfentwickelung nach außen zu fahren.

Nun galt es die ganze Fahrt bis in den großen Nordbahnhof mit stiller Locomotive. Still fuhren wir wieder eine Strecke, bis wir vor einer noch unfahrbaren Stelle hielten. Hier mußten wir in einem Schachtthurme auf die Oberwelt steigen, etwa zweihundert Schritte auf der Straße im lieben Tageslichte gehen, um dann wieder zu neuer Fahrt hinabzuklettern. Letzteres war für die Meisten nicht leicht. Dünne, schwankende Breter über einer düsteren Unterwelt nahmen uns auf. Von hier sollten wir an einer senkrechten Eisenleiter hinabklettern. Mehrere erklärten sofort, daß sie dies nicht wagen könnten. Diese wurden denn auf die „Wiege“ gebracht, d. h. ein zwischen glatten Pfosten und Bretern in Flaschenzügen hängendes Parterre, auf welchem künftig die Passagiere auf den verschiedenen Stationen rasch und leicht auf- und hinabgelassen werden. Die Wiege war aber offenbar noch nicht fertig. Wenigstens mußte das einfache Bret mit lauter „Stehsitzen“ doch wohl ein Geländer haben, weil sich sonst das Publicum, wenn es etwas „voll“ ist, an den Rändern mehr oder weniger scheuern und quetschen wird, indem es zwischen den Pfosten und Bretern auf- oder abgleitet, wie es mir und mehreren Anderen nicht zum Vortheil meines Rockes und Rückens ging.

Plötzlich hören wir eine Stimme: „Das ist nicht der rechte Schacht. Der fährt nach Westen. Bitte wieder einzusteigen.“ Einer von der Compagnie gab aber Befehl, daß man ein paar Minuten warten solle, um den Herren just die verschiedenen Abtheilungen einer unterirdischen Station zu zeigen. Wir nahmen also zunächst die beiden Perrons für Hin- und Her-Passagiere in Augenschein, dann die Schuppenräume für Locomotiven und Waggons zum Anhängen und als Reserve, den Untergrund-Thurm, dessen Inneres eine Wendeltreppe aufnehmen sollte, sonstige ausgemauerte Löcher und Höhlen für Wärter, Inspectoren, Telegraphie etc., Alles unter Steinpflaster, Straßen und Häusern ausgewühlt, wasserdicht ausgemauert und mit „ewigen Lampen“ erleuchtet.

In der Flaschenzug-Wiege wieder aufgewunden, aber diesmal in zwei Abtheilungen, wurden wir etwa hundert Schritt weit vor eine senkrecht in dunkeln Abgrund führende eiserne Leiter geführt und gebeten, so rasch als möglich hinunter zu steigen, da hier der einzige Weg nach dem unten wartenden Zuge sei. Auf einer senkrecht, schnurgerade in einen dunkeln Abgrund führenden Leiter eine Höllenfahrt zu machen, das war für Viele von uns eine starke Zumuthung. Aber es half, nichts, entweder – oder. So kletterten wir denn auch mit raschem Entschlusse dicht hinter einander unterweltwärts, von den Füßen dicht über uns mit Stiefelanhängseln behagelt und stets bedacht, daß sie auf unsere ängstlich anklammernden Hände treten würden, so dicht über einander kletterten wir – Jeder mit allen Vieren – in die neue, nicht Dante’sche Unterwelt. Mein dicker Nachbar über mir trug den Regenschirm quer im Munde, wie ein apportirender Pudel. Die Einfahrt war noch in Arbeit in verschiedenen Etagen, von denen die Maurer und Kärrner aus verschiedenen Entfernungen und Lichtern spöttisch auf unsere gymnastischen Künste hereingrinsten. An einigen Stellen war’s eng, so daß mein Nachbar über mir mit dem quer im Munde getragenen Parapluie hängen blieb und nach einigem Zerren und Zausen sich genöthigt sah, den Schirm aus den Zähnen in die Tiefe fallen zu lassen.

Da unten aber war’s fürchterlich! Mit Hülfe von ein paar armseligen Lichtern mußten wir durch eine nur theilweise gewölbte, unten noch lehmige, zähe, mit Wasserpfützen aufleuchtende Schlucht bis zu dem harrenden Zuge weiter und zwar im gefährlichsten Gänsemarsch auf einem platschigen, schlüpfrigen Brete. Ein dicker Gentleman, der vor uns ausglitschte und mit einem Plump und Platsch mit Bauch und Nase in den Unterweltsbrei fiel, ward sofort von den dicht Nachtretenden, lebendig von lebendiger Decke, begraben. Die nun folgende Scene war das grausigste, lehmigste Gemisch des Schrecklichsten und Komischsten. Lessing oder ein Anderer hat gesagt: „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.“ Hier hatten wir’s so schön durcheinander, als hätte der Chemiker Eins in dem Andern vollständig aufgelöst, wenn überhaupt in einer solchen Tiefe noch vom Erhabenen die Rede sein kann. Dieses vielstimmig-mißtönige Schreckensgeheul und Geknete während der verschiedenen Grade der Auferstehung und des Ausgrabens eigener und fremder lebendiger Gliedmaßen, und dann der neue Schreckensruf, als mit furchtbar rasch wachsendem dumpfen Donnergebrüll ein Zug heranbrauste, vor oder hinter uns, – ich will diesen Augenblick des Entsetzens nicht ausmalen. Glücklicherweise schrie ein Mann vorn aus Leibeskräften, daß der gewöhnliche Zug mit ausgegrabener Erde diese Schlucht gar nicht passire.

Wie wir bei Lichte aussahen, braucht Niemand so genau zu erfahren. Aber es muß doch sehenswerth gewesen sein; denn als wir später mit unsern „Ueberziehern“ aus der Unterwelt an’s Tageslicht kamen, blieben die Leute stehen und hatten ihre kannibalische Freude an uns Gnomen oder unterirdischen Erdmännern. Selbst die rothjackigen, numerirten Mitglieder der „Stiefelwichs-Brigade“ blieben ohne Erbarmen und nahmen sich mit ihren sonst immer hülfreichen Bürsten weder unserer Kleider, noch der Stiefeln an.

Wir erreichten den harrenden Zug, machten wieder eine kleine unterirdische Eisenbahnreise, stiegen wieder durch eine enge Oeffnung senkrecht an’s Tageslicht, marschirten bis zum nächsten Schacht, kletterten noch einmal hinunter und fuhren von da an endlich mit ordentlichem Dampf, auf ordentlichen Schienen durch den erleuchteten Tunnel an’s Ziel im ungeheueren Bahnhöfe der großen Nordbahn an King’s Croß, ohne besondere Abenteuer zu erleben oder Todte zurückzulassen. Aber zu bewundern gab’s genug unterwegs. Obgleich ich weder ein Bau- noch ein Maurermeister bin, hatte ich doch eine Idee von den ungeheueren Schwierigkeiten und der Schönheit dieser meilenlangen Eisenbahn-Tunnels. Die sichtbaren Mauerschichten, die graziösen, massiven Curven, Bogen und Wölbungen, die oben, wie man uns sagte, bis drei Fuß hoch unter den Straßen und Häusern aufsteigen – (je nach Unebenheit des Bodens) während sie horizontal fortlaufend manchmal bis 10 und 14 Fuß sinken – dieser unter der Erde, unter London hinlaufende Heroismus des Unternehmungsgeistes nöthigte uns höhere Achtung ab, als der stolzeste Kasernenbau in Berlin mit seinen elektrischen Drähten, die sie mit dem königlichen Schlosse zu einem Organismus des Vertrauens verbinden.

An Stellen, wo das Mauerwerk ungewöhnliche Lasten von oben und den Straßenverkehr tragen muß, hat es die Form eines Apfels mit einem Loche durch; ringsum, auch unten, zehnfaches Gemäuer, das nie geringer wird, als sechsfach. Diese sechs- bis zehnfachen Mauerschichten sind von außen mit wasserdichten Stoffen und außerdem von dichten Asphalt-Schichten umgeben, so daß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_266.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)