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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

wir wollen jetzt hinab zur Erde. Die Strickleiter gefaßt! Jeder nehme eine der leeren Flaschen in die Hand und werfe sie auf mein Zeichen hinaus.“ In demselben Augenblick ergreift Regenti die Leine des Ventils – langsam öffnet sich die Klappe – das leichte Gas strömt aus, die schwere Luft dringt ein – in schiefer Ebene sinken wir allmählich hinab bis zu einer Höhe von gegen 2000 Fuß. Hier aber packt uns der untere Luftstrom und reißt uns, in entgegengesetzter Richtung fließend, hastig mit sich fort. Wohin? – das wußten wir noch nicht. Der letzte Ballast wird ausgeworfen – doch vergebens, mit ungewöhnlicher Schnelligkeit beharrt der Ballon im Sinken – riesengroß werden die Häuser der zunächst liegenden Ortschaft – die Erde scheint mit Sturmesgeschwindigkeit uns entgegen zu kommen, als oh sie uns verschlingen wolle. Der Anker wird schnell ausgeworfen. „Die Strickleiter ergriffen!“ ruft Regenti, „festgehalten! – wir werden geschleudert.“ Beinahe in demselben Moment stößt die Gondel krachend auf den Erdboden. „Immer festgehalten!“ ruft er noch einmal, denn er ahnte, was mit uns geschehen könnte, wenn der Anker bei dieser reißenden Geschwindigkeit entweder nicht in den Erdboden eingriff oder von dem Seil getrennt wurde.

Der Anker hatte nicht gegriffen – mit der ganzen in der untern Region wachsenden Kraft rafft sich der Ballon auf, erhebt uns nach wenigen Secunden einige Hundert Fuß und fällt zum zweiten Male hinab – jetzt schleift er die Gondel den Erdboden entlang – wie ein dämonisches Ungethüm reißt er uns abermals in die Höhe – von Neuem stürzt er nieder und jagt in dieser Weise uns mehr als eine halbe Meile weit fort, schleudernd über Wiesen und Saaten und Sträucher und Bäume. Der Gunst des Terrains verdanken wir es, daß bei diesen nicht mehr gezählten Prellstößen keine Arm- oder Beinbrüche vorgekommen sind. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich es ausspreche, daß Keiner von uns an eine glückliche Rettung mehr dachte.

Die Gefahr wächst noch mit jedem Augenblicke – mit Schaudern denke ich an die Schreckensminuten zurück, da die Gondel in den Telegraphendrähten hängen blieb und der wüthende Ballon über unsern Köpfen nach allen Richtungen es versuchte, das Weidengesträuch unserer kleinen Gondel zu zerreißen – schon fallen einzelne Stücke von ihr herab – vielleicht ist sie bereits im nächsten Moment von den Drähten zerschnitten. Mit der Riesenkraft seiner Arme gelingt es Regenti, uns an dem nächsten Pfahle festzubinden – aber mit erschöpfter Kraft und blutendem Gesicht sinkt er zurück mit den Worten: „ich kann nicht mehr.“ Der wüthende Ballon kämpft mit den Drähten und droht die mit ihnen verbundenen Pfähle zu zerbrechen.[1] Die geschmeidigen Drähte geben nach, die Pfähle werden von ihnen noch gehalten – doch jeden Augenblick scheinen sie umzustürzen und Ballon nebst Gondel über die nahen Schienen der Eisenbahn zu schleudern. In dieser schrecklichen Lage nähert sich uns schnell dampfend ein Bahnzug. Bis auf 300 Schritt hat uns die Locomotive schon erreicht. Wir waren auf Alles gefaßt. Auf dem höchsten Gipfel der Gefahr angelangt, wird uns endlich die kaum erwartete, ersehnte Hülfe. Ein Schäfer mit seiner Frau und seinen Kindern boten uns zuerst ihre rettenden Hände – es gelang ihnen, den Anker des Ballons an einer Umzäunung zu befestigen. Der nächste Bahnwärter war ebenfalls schon herbeigeeilt, nachdem er das Zeichen zur Hemmung des Zuges gegeben hatte. Die Conducteure und Schaffner verließen ihre Wagen, stürzten herbei, und mit vereinten Kräften ward endlich der Ballon, ein dämonisches Ungethüm, gebändigt und überwältigt.

Gott sei gedankt, wir waren gerettet und kamen zum Theil mit zerrissenen Kleidern und mit mehr oder weniger starken Contusionen an Armen, Beinen und Schultern glücklich davon. Es ist jedoch zu bedauern, daß der Ballon, der bei hereingebrochener Dunkelheit auf einer Wiese des Bredower Vorwerkes, in der Nähe von Nauen, von seiner letzten Gasladung befreit wurde, durch Unvorsichtigkeit den willigen, helfenden Händen der herbeigeeilten Dorfbewohner aus dem Netz entschlüpfte. Von dieser letzten Last befreit, erhob er sich zum letzten Male noch mit fast pfeilschneller Geschwindigkeit, um nicht mehr wiederzukehren; denn zwei Tage darauf traf die Nachricht hierselbst ein, daß er in tausend Stücken zerrissen auf den Feldmarken jenseits Nauen gefunden wäre.

Ich kann diese Darstellung nicht beenden ohne eine ganz kurze allgemeine Schlußbemerkung über die zweckmäßigste Ausstattung eines Luftschiffes. Diese Ausstattung erscheint mir einerseits aus eigenen Erfahrungen während meiner beiden Luftreisen, andererseits aus einer eingehenden Bekanntschaft mit der Geschichte der Aërostatik nicht blos wünschenswerth, sondern vielmehr nothwendig zu sein.

1) Ein oder zwei Fallschirme dürfen einem Luftballon nicht fehlen.

2) Das Ventil des Ballons muß mit zwei Leinen versehen sein, denn die Geschichte der Aërostatik spricht von Unglücksfällen, die daraus entstanden sind, daß das Ventil in Folge des abgerissenen Strickes unbrauchbar wurde.

3) Ein jeder Ballon muß 4–6 Sturmleinen haben.

4) Der Anker ist an ein möglichst weiches Tau, am besten an ein Kautschuktau zu befestigen.

5) Auch ist es ernstlich anzurathen, daß der Luftschiffer als sichern Rathgeber beim Steigen und Fallen ein Aneroid jedesmal mitnehme.


Das kleinste Säugethier.
Von Dr. A. Brehm.

Das nebenstehende Bildchen ist auch eine Erläuterung des Spruches unseres Rückert:

„Wie groß Du für Dich seist, vor’m Ganzen bist Du nichtig,
Doch als des Ganzen Glied bist Du als Kleinstes wichtig!“

– es stellt dem geneigten Leser das letzte Glied einer reichhaltigen Ordnung, einen Verwandten des gewaltigen Löwen vor. Der Künstler hätte es gern größer gezeichnet, wenn dies nur angegangen wäre, ohne der Natur zu widersprechen. Die etrurische Spitzmaus ist nicht größer, als die Abbildung sie darstellt; 2½ Zoll Leibeslänge, 1 Zoll Höhe am Widerrist und 36 Gran Gewicht: das sind die Maße, welche ihr zukommen. Und dieses kleine Geschöpf, des Zwerg der ersten Classe, dieses dem Walfisch gegenüber geradezu verschwindende Säugethier ist ein Räuber, ein mindestens ebenso blutdürstiges Wesen, als der Marder, ein ebenso grausames, als der Tiger!

Kaum eine andere Ordnung des Thierreichs zeigt einen größeren Gestaltenreichthum, keine ist geeigneter, den Laien zu verwirren, als die der Raubsäugethiere. Alle nur denkbaren Umbildungen einer und derselben Grundgestalt treten in ihr vor das Auge, und dennoch wird die Grundgestalt überall festgehalten. Dem oberflächlichen Beobachter will es freilich nicht einleuchten, daß der anmuthige, einhellig gebaute Katzenleib mit dem plumpen Körper des Maulwurfs oder der schlanke Marder mit dem Igel, der Hund mit der zierlichen Spitzmaus, der Bär mit dem Wiesel Aehnlichkeit habe, und doch sind sie alle nicht blos geistig, sondern auch leiblich innig verwandt. Ihnen allen ist eine große Gleichmäßigkeit des Leibesbaues gemeinsam. „Die Gliedmaßen der Raubthiere“, sagt Giebel, „stehen in gleichem Verhältniß zu einander und in einem einhelligen zum Leibesbau, Gewandtheit und Kraft in ihren Bewegungen verrathend. Immer sind die Füße mit vier oder fünf starkbekrallten Zehen versehen, und so zeigen sie sich zum Graben, Klettern, Schwimmen und Ergreifen ebenso geeignet, als zum Gehen, ihrer eigentlichen Bestimmung. Alle Sinneswerkzeuge sind scharf und in einem gewissen Grade gleichmäßig entwickelt. Verzerrungen und Absonderlichkeiten, fratzenhafte und widerliche Gestalten fehlen gänzlich unter ihnen; die Harmonie in ihren Körpertheilen und die Entschiedenheit ihres Naturells, beide kennzeichnen sie als typisch vollendete Säugethiere.“

Ein so vollendetes Säugethier muß auch unser Zwerg genannt werden. Er gehört einer eben so bewegungsfähigen und gewandten als mordlustigen und blutgierigen Familie an. Alle Spitzmäuse sind unter den kerbthierfressenden Raubthieren dasselbe, was die Marder unter den fleischfressenden sind. Sie verstehen das Räubergewerbe in der ausgedehntesten Weise zu betreiben; sie besitzen alle


  1. Die bildliche Darstellung dieser Scene, von Herrn Burger in Berlin gezeichnet, erscheint in nächster Nummer.
    D. Redaction.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_588.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)