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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

und Ziel verdammt. Nur einmal stieg an meinem Lebenshimmel ein helleres Gestirn auf und schien mir jenen beseligenden innern Frieden zu verheißen, der allein des Künstlers Streben und Schaffen die rechte Weihe verleiht. Ich war an einem mittleren Hoftheater angestellt, und meine Leistungen erfreuten sich einer so beifälligen Aufnahme, daß mir von der Intendanz ein Contract von längerer Dauer in Aussicht gestellt wurde. Ich begrüßte diese glückliche Wendung meiner Laufbahn mit hoher Freude, denn ich hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als mir einen eigenes Heerd zu gründen und in dem Genusse häuslichen Glücks eine Befriedigung zu gewinnen, die mir der Umgang mit meinen Collegen nicht gewähren konnte. Seit längerer Zeit hatte ich ein stilles Einverständniß mit einer gleichgestimmten jungen Schauspielerin unterhalten; was stand jetzt, da mir eine gesicherte Stellung zugesagt war, im Wege, uns dem Personal der Hofbühne als Brautleute vorzustellen? Es geschah – doch kaum hatte der Intendant unsere Verlobung erfahren, als er sein bisheriges Benehmen gegen uns urplötzlich änderte. Wir sahen uns den erbärmlichsten Chicanen und Zurücksetzungen preisgegeben; Rollen, in denen wir früher die ehrenvollste Aufnahme gefunden hatten, wurden uns abgenommen und an Unfähigere vertheilt, bezahlte Federn wurden in Bewegung gesetzt, um unsere Leistungen in den Augen des Publicums durch hämische Angriffe herabzusetzen, und schmutzige Geschichten erfunden, um unser Privatleben zu verdächtigen. Zu spät erfuhr ich von meiner Verlobten, daß der Intendant sie seit langer Zeit schon mit den zudringlichsten Anträgen verfolgt und sie mir diese nur verschwiegen hatte, um mich vor unbesonnenen Schritten, die meine Stellung gefährden konnten, zu bewahren. Die Veröffentlichung unserer Verlobung, hatte sie geglaubt, würde den Nachstellungen des Unverschämten ein Ende machen und diesen für immer in die gebührenden Schranken zurückweisen. Wie sehr hatte sie sich getäuscht! Der elende Höfling, der es nicht ertragen konnte, die redlichen Bewerbungen eines bescheidenen Schauspielers seinen unverschämten Anträgen vorgezogen zu sehen, vergällte uns unsere Stellung derart, daß wir entschlossen waren, dieselbe um jeden Preis aufzugeben. Wir forderten unsere Entlassung, die uns auch bereitwilligst gewährt wurde. Wenige Tage darauf ließen wir uns trauen und sagten dem Schauplatze unserer schmählichsten Enttäuschung Lebewohl. Da unsere beiderseitigen Ersparnisse uns in den Stand setzten, eine günstigere Wendung der Dinge abzuwarten, so durften wir allerdings der nächsten Zukunft ruhig entgegensehen. Wir lebten der Hoffnung, ein Engagement, ähnlich dem, welches wir aufgegeben hatten, wieder zu finden, aber weder Reisen noch Correspondenzen führten ein nennenswerthes Resultat herbei. Der Winter rückte heran, und ich war froh, wenigstens für mich ein Engagement bei einer reisenden Gesellschaft zu finden, da meine Frau, die sich Mutter fühlte, nicht im Stande war, die Breter zu betreten. Der Augenblick der Entbindung kam; die trüben Erlebnisse des letzten Jahres hatten die Aermste zu tief gebeugt und ihr alle Kraft vorweggenommen – die Stunde, welche mir eine Tochter schenkte, brachte mich um die Mutter… Es war mir wehe um’s Herz, als ich der theuern Leiche die Augen zudrückte und rathlos auf das nackte kleine Wesen blickte, dein ich keine Pflege bieten konnte.

Glücklicherweise erbarmte sich meiner eine entfernt wohnende Verwandte, an die ich unter dein vollen Eindruck der ersten Verzweiflung geschrieben hatte. Sie unternahm die weite Reise zu mir und enthob mich der Sorge für mein hülfloses Töchterchen, dem ich nichts, gar nichts mitzugeben hatte, als ein Medaillon mit dem Bilde der verblichenen Mutter. Ich habe mein Kind seit jenem Tage nicht wiedergesehen. Jene Verwandte, eine herzensgute, aber beschränkte Frau, fürchtete, daß mein persönliches Erscheinen die Neigungen des Kindes den Kreisen des bürgerlichen Lebens entführen und dem Schauspielerstande zuwenden möchte, und beschwor mich daher in ihren Briefen, meine väterliche Sehnsucht zu beherrschen, bis meine Tochter erwachsen wäre und eine passende Versorgung gefunden hätte. Was sollte ich thun? Ich mußte mich dem Wunsche der guten Frau fügen, denn welche Erziehung hätte ich aus meinen planlosen Kreuz- und Querfahrten meinem Kinde bieten können? Ich blieb nach wie vor auf briefliche Mittheilungen beschränkt – aber eben durch diese erfuhr ich von meiner Verwandten, daß ihre vorsichtige Erziehung keineswegs von dem erwünschten Erfolge begleitet war. Je mehr meine Emilie heranwuchs, desto häufiger wurden die Klagen über ihren unlenksamen Sinn und hartnäckigen Widerstand gegen Alles, was herkömmlicher Sitte und Gewohnheit ähnlich sah. Das Blut der Eltern war zu mächtig in dem Kinde, als daß es sich je in die beschränkten Verhältnisse des kleinbürgerlichen Lebens hätte fügen können. Plötzlich und unerwartet empfing ich die Nachricht von dein Tode der guten Verwandten. Ich brach schleunig auf, um meine Tochter, die ich vor achtzehn Jahren in den ersten Wochen ihres Lebens von mir gegeben hatte, endlich in meine Arme zu schließen – aber welche Enttäuschung stand mir bevor! Kaum war ich in dem Städtchen angekommen, als ich erfuhr, daß das tolle Kind auf und davon gegangen war. Nur einige Zeilen hatte sie für mich zurückgelassen. „Nur mit blutendem Herzen,“ so schrieb mir mein böses Kind, „gehe ich der Begegnung mit Dir, aus dem Wege, die nur dazu führen könnte, mich in meinem längst gefaßten Entschlusse, Schauspielerin zu werden, zu erschüttern. Forsche nicht nach mir! Unter fremdem Namen werde ich die Bühne betreten und meinen Vater nicht sehen, bis ich als ruhmgekrönte Tochter zu ihm treten und die Tage seines Alters verschönern kann.“ Das also war die ganze Ausbeute achtzehnjähriger Hoffnungen! Meine Tochter auf demselben abschüssigen Wege zum Untergange, den ihre unglücklichen Eltern einst betreten hatten – und ich an der Schwelle des Alters, ohne Hoffnung, sie je wieder zu sehen! … Acht Jahre sind seitdem vergangen, doch meine Emilie habe ich nicht wieder gesehen. Ich fühle mich hinfällig und dem Ende nahe und will gern die Breter, auf denen ich ein freudenarmes Leben hingebracht, mit der letzten kahlen Breterwohnung vertauschen, wenn ich vorher nur einmal mein Kind wiedersähe, wenn ich nur wüßte, daß die liebevollen Blicke meiner Emilie den meinen begegneten, ehe sie für immer erlöschen. Dann mag der alte Regisseur da oben immerhin zum Schluß klingeln und den Vorhang fallen lassen über das traurigste Stück, das je gespielt worden.“

So schloß mein guter, unvergeßlicher Zugvogel. Ich aber nahm kurze Zeit darauf Abschied von ihm und den übrigen Mitgliedern, deren ordinärer Ton mir als die widerwärtigste Carricatur auf ihren Stand erschien und mir allen längern Aufenthalt gründlich verleidete.

Zugvogel hat seine Tochter wieder gesehen, aber in einer Weise, die er nicht geahnt hatte. Ungefähr sechs Monate nach jener Räubervorstellung erfuhr ich Zugvogel’s Tod und die merkwürdigen Umstände, unter welchen derselbe erfolgt war. Der gute Alte hatte nach meiner Abreise ein anderweitiges Engagement bei einem kleinen Stadttheater gefunden und von der Direction die Vergünstigung eines Benefizabends erhalten. Um sich eine erträgliche Einnahme zu verschaffen, hatte er sich an mehrere Mitglieder eines benachbarten Hoftheaters mit der Bitte gewandt, ihn in dieser Vorstellung durch ihre Mitwirkung zu unterstützen, und freundliche Zusage empfangen. Unter den Stücken, welche für jenen Abend gewählt waren, befand sich auch das alte Kotzebue’sche Schauspiel „der arme Poet“. Zugvogel, der in besseren Tagen die Titelrolle mit großem Erfolge gespielt hatte, schien angeregter als je und spielte mit überraschender Rüstigkeit und Frische. Die Scene, in welcher der alte Poet seine verloren geglaubte Tochter – diesmal von einer der Hofschauspielerinnen dargestellt – wieder erkennt, kam heran. Zugvogel hatte die Worte zu sprechen: „So bist Du meine Tochter?!“ In der vollen Wärme seines naturwahren Spiels schwankte er der Schauspielerin entgegen, um sie zu umarmen – da plötzlich fielen seine Blicke auf ein Medaillon, das sie an ihrem Halse trug … die Kapsel war aufgesprungen, er erkannte das Bild seines längst entschlafenen Weibes … kein Zweifel – es war seine Tochter, die vor ihm stand. Die zitternden Lippen wollten ansetzen: „Du bist – Du bist –“ mehr konnte er nicht hervorbringen, seine Arme fielen schlaff herunter, seine Augen schlossen sich und machtlos sank er in seinen Sessel zurück. Schauspieler und Zuschauer verstummten vor der ergreifenden Wahrheit dieser Darstellung – Keiner ahnte, daß in diesem Moment Dichtung und Wahrheit einander die Hände reichten, und daß hier eine Scene voll erschütternder Wirklichkeit gespielt worden. Erst als Minute auf Minute verrann und Zugvogel immer noch bewegungslos dasaß, durchzuckte die Mitspielenden eine Ahnung des Vorgefallenen. Man ließ den Vorhang fallen … In dem Sessel des alten Poeten saß eine Leiche.“

Adolph Fr–s.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 752. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_752.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2021)