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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

genug, ihrer Verwunderung Worte zu leihen. „Wie Sie das nur anfangen, liebste Frau Pfarrerin,“ sprach sie, „das Kind so leicht zu beruhigen! Mein Karlchen gab sich in dem Alter nicht so schnell zufrieden. Wir haben weidlich bei ihm ausgestanden. Ich und die Magd und mein Mann dazu, wir waren oft die halbe Nacht auf den Beinen, wenn der Schreihals seine Launen hatte. Wir mußten wiegen und schaukeln, heben und tragen, singen und klappern, lärmen und trommeln, es half Alles nichts.“

„War das Kind vielleicht krank?“ fragte die freundliche Pfarrersfrau, obgleich man ihrem Ton und ihrer schalkhaften Miene wohl anmerkte, daß sie selbst nicht recht an jene Krankheit glaube.

„I bewahre!“ lautete die Antwort, „nichts fehlte dem Schlingel, eigensinnig war er,“ – („und verwöhnt!“ setzte ich, wohlweislich nur in Gedanken, stillschweigend hinzu.) – „es half Alles nichts, man mußte ihm seinen Willen thun.“

„Aber fürchteten Sie denn nicht, den Kleinen dadurch noch mehr zu verwöhnen und Ihre Mühe und Pflege zu verdoppeln?“ platzte ich endlich heraus.

„Lieber Gott, was will man denn thun? Man kann ein Kind ja doch nicht schreien und weinen lassen!“ antwortete die wohlmeinende, aber übelberathene Sprecherin. „Warten Sie nur, liebes Frauchen,“ fuhr sie gegen die Pfarrerin gewendet fort, „Sie werden es gerade so machen, wenn Sie erst ein halb Dntzend beisammen haben!“

„Ich glaube nicht,“ antwortete diese lächelnd, „denn dazu würde mir dann vollends die Zeit fehlen. Ich finde es weit besser und für Mutter und Kind zuträglicher, lieber gleich in den ersten Tagen und Wochen das Kind an’s Liegen zu gewöhnen und es lieber, wenn sonst keine leicht zu erkennende und zu beseitigende Ursache vorhanden, sich einige Zeit ausschreien zu lassen, auf die Gefahr hin, Manchen für eine „Rabenmutter“ zu gelten, als den kleinen Eigensinn groß zu ziehen und sich selbst eine Ruthe damit zu binden.“

Damit war das Gespräch unwillkürlich auf das Weinen des zarten Kindesalters und auf die Macht der frühesten Gewöhnung gelenkt, ein Gegenstand, der zu den lehrreichsten Betrachtungen Stoff bietet, aber leider auch die verkehrtesten Behandlungen in der Kinderstube zu erfahren hat. „Es geht,“ sprach mein Freund, „dem armen Kindesweinen gerade so, wie dem kalten Fieber, das ja auch, nach dem alten Regime der allopathischen Heilmethode, als wirkliche Krankheit behandelt und curirt, d. h. vertrieben wird, während dasselbe nach neuern Anschauungen und Erfahrungen doch nur der Kampf der Natur selbst und ihres Heilbestrebens ist, sich der in ihr befindlichen Krankheitsstoffe zu entledigen. Hier wie dort gelingt es allerdings, durch gewisse Mittel diesen naturgemäßen Kampf zu unterdrücken, man vertreibt das Fieber und – das Weinen, aber man hat damit meist nur der augenblicklichen Wirkung entgegengearbeitet, ohne den Grund und die Ursache derselben zu beseitigen, und dadurch oft viel mehr geschadet als genützt. Ein gesundes Kind weint nie, ohne innere oder äußere Ursache. Diese zu ergründen und sie entweder einfach zu entfernen, oder, wo dies aus physischen oder pädagogischen Gründen nicht rathsam erscheint, sich durch dieselbe und ihre natürliche Wirkung nicht beirren zu lassen, darin besteht die Kunst, der Instinct und die Weisheit der wahren Elternliebe, darin insbesondere der Scharfblick des wachen Mutterauges, dem es nicht entgeht, daß hier, neben der Rücksicht auf Gesundheit, Sättigung, Reinlichkeit, Bequemlichkeit und später insbesondere auf angemessenes Beschäftigtsein, auch der Grund nicht außer Acht gelassen werden darf, daß zeitweises Weinen und Schreien kleiner Kinder, welches junge, unerfahrne Eltern, besonders Vaterohren so sehr zu erregen und zur Herstellung der „Ruhe um jeden Preis“ anzutreiben pflegt, eine durchaus nothwendige, unentbehrliche Bedingung des körperlichen Gedeihens und der Entwickelung der dadurch berührten Organe im Kinde ist; also keineswegs mit aller Macht gehemmt und beschwichtigt werden darf.“

Unser Gespräch ward hier durch den Eintritt des älteren Knaben unterbrochen, der, eine Schnecke in der Hand, seinen Fund jubelnd den Eltern und Gästen zeigte, und durch sein munteres, zutrauliches Wesen, seine Lebhaftigkeit und seine von reger Wißbegierde zeigenden Fragen die Gesellschaft bis zu ihrem Aufbruch auf’s Angenehmste beschäftigte, indem er zugleich den besten Commentar und praktischen Beleg für die Richtigkeit und Naturgemäßheit der Fröbel’schen Erziehungsgrundsätze schon beim zartesten Kindesalter lieferte.

Auf dem Heimwege wurde noch weiter über den angeregten Gegenstand verhandelt; mir aber drängte sich unwillkürlich die Betrachtung des eigenthümlichen Verhältnisses von Putz- und Kinderstube in so manchen Familienkreisen auf.

Wenn man als Fremder zum ersten Male ein fremdes Haus betritt und, wie das gewöhnlich der Fall ist, sich während der Anmeldung bis zum wirklichen Empfang einige Zeit allein in der Gast-, Putz- ober sogenannten „guten Stube“ befindet, da benützt man gern die wenigen Minuten, um sich durch einen raschen Umblick in derselben und auf die darin befindlichen Mobilien, Bilder, Bücher und andere Gegenstände, so weit dies möglich, über den muthmaßlichen Geist des Hauses und seiner Bewohner zu orientiren. Man schließt nicht ganz mit Unrecht vom Aeußern der Umgebung auf das Innere der Menschen, welchen man demnächst begegnen, mit denen man in nähere oder entferntere Berührung treten soll. Indeß können derlei Beobachtungen und Schlüsse doch auch leicht irre führen. Erstreckt sich doch die Herrschaft des Luxus und der Mode mit ihrem unwiderstehlichen Gebot und ihrem täuschenden Schimmer selbst bis in die Regionen des Geistes und Charakters, indem sie die Individualität und Originalität des Geschmacks immer allgemeiner in die Uniform ihrer Regeln und Anforderungen kleidet.

Wer träte z. B. heute in die Gaststube, oder – um zeitgemäß zu sprechen – in das Boudoir, den Salon einer eleganten Dame, ohne darin, außer dem Schmuck und Duft eines schön geordneten Blumentisches, auch dem Glanz eines kostbaren Bücher-Glasschrankes, oder doch zum Mindesten eines feingestickten Eck-Bücherbretes mit den herrlichsten Geistesblüthen deutscher Dichtkunst in elegantestem Einband und Goldschnitt zu begegnen? – Wer aber daraus den Schluß ziehen wollte, daß die Frau und Mutter des Hauses jene Blumen nothwendig selbst gezogen, gepflanzt und geordnet; daß sie an jenen zur Schau ausgestellten Geistesblüthen eines Schiller, Goethe, Uhland, Theodor Körner, Justinus Kerner etc. den eigenen Geist gelabt, gebildet und veredelt habe; daß die herrliche Prachtbibel, mit ihren kunstvollen Stahl- und Holzschnitten von Meisterhand, nicht nur dem Aeußern, sondern auch dem Innern nach den Geist des Hauses näher bezeichne, und dem Herzen der Hausfrau und ihrer Angehörigen in stillen Stunden Licht, Trost und Stärkung biete; wer alle diese Schlüsse für untrüglich hielte, der vergäße offenbar, daß heuzutage eine elegante Modedame sich mit derlei nicht zu befassen braucht oder zu brauchen meint, daß sie vielmehr dazu ihren Gärtner, ihren Buchhändler und Buchbinder, ihren Kammerdiener und ihre Zofe hat, durch welche ihre Putzstube, diese erste unerläßliche Bedingung eines eleganten Haushaltes, den Anforderungen der Zeit, der Mode und des Standes entsprechend, stets in frischem Glanz erhalten wird, und daß Alles auch sonst noch darin Befindliche weiter keinen Zweck hat, als dem Auge zu gefallen, und ein günstiges Vorurtheil für Stellung, Bildung und Vermögen der Familie zu erwecken.

Ganz anders stände es freilich mit diesem Vorurtheil, wenn man z. B. den des Empfanges harrenden Fremden statt in die Putz- in die Kinderstube führte, und ihn da mit den Kindern des Hauses und deren Wärterin ein Weilchen allein ließe. Er würde daselbst in kürzester Zeit ein weit sichereres Urtheil über den Geist des Hauses und seiner Bewohner gewinnen können, als durch allen Glanz und Schmuck, Geschmack und Comfort der Putzstube. Diese hat von Haus aus ihre Bestimmung mehr im Schein, als in der Wahrheit, während dies bei der Kinderstube sich gerade umgekehrt verhält.

Fassen wir die letztere selbst einmal etwas näher in’s Auge, Für fremde, uneingeweihte Augen bleibt sie meist ein mit sieben Siegeln verschlossenes Heiligthum. Warum? – Je nun, es hat allerdings seinen guten Grund. So wie man vor Fremden weder sich selbst, noch seine Kinder gern im Negligé zu zeigen liebt, sondern erst nach sorgfältig gemachter Toilette, welche dazu bestimmt ist, den natürlichen Menschen für das beobachtende Auge ein wenig zuzustutzen und herauszuputzen, so hat man auch in vielen Familien seine guten Ursachen, die Kinderstube den sprechenden Blicken zu entziehen, um sie nicht zur Verrätherin des darin herrschenden Erziehungssystems, oder besser – dessen Mangels, werden zu lassen.

Schon äußerlich gehört sie meist nicht eben zu den bevorzugten und begünstigten Räumlichkeiten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_815.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)