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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Kopfende des stillen Häuschens kniete und die kalte Hand seines einzigen Kindes mit Küssen bedeckte. Wie war es möglich? Sie hatten keinen Trost für den armen Mann, kein Wort der Theilnahme, und als er in seinem Schmerz nach Ihrer – nach der Schwester Hand faßte, als ob er dort eine Stütze seines zerstörten Glückes finden könne, da wandten Sie sich mit kalter Strenge ab und sagten nur: „Sieh’, Carl, das ist die Strafe für Deine Ungläubigkeit.“ –

O Madame, der Himmel segnete Sie, indem er Sie tagtäglich noch das süße Wort Mutter hören läßt; behüte Sie der Himmel nun auch vor jenem letzten dumpfen Hammerschlage, der das Kind für immer von der Mutter trennt, damit Sie sich niemals jener unseligen Stunde erinnern, in der Sie in Ihrer Starrgläubigkeit für den Schmerz eines Vaters keinen Trost hatten, kein linderndes Wort – nichts als die Hinweisung auf die Rache eines zürnenden Gottes!

Madame, ich muß es wiederholen, Sie sind nicht fromm, obwohl Sie täglich Ihre schönen Augen zum Himmel aufschlagen und niemals die Kirche versäumen. Der innerste und, wie ich glaube, noch unangefressene Kern Ihres Herzens weiß nicht, was Ihre Lippen sprechen, was Ihre Hände thun. Sie lispeln Worte, die in Ihrer Brust nicht geboren, in Ihrer Brust nicht wiederklingen. Der so bequeme und wohlfeile Glaube, mit diesen auswendig gelernten Phrasen den Himmel zu verdienen und mit leeren Worten dem Schöpfer des Weltalls zu gefallen, läßt Sie eine Rolle spielen, die in Stunden stiller Einkehr Ihnen selbst als unreligiös erscheinen muß. Sie vergessen, daß man eine Heilige auch ohne Gebet sein kann. Sie meinen, Religion bestehe nur in der Ausübung kirchlicher Formen, in dem starren Festhalten am Hergebrachten, in der Aufrechthaltung äußerlicher Satzungen. Ah, Madame, die Bibel ist ein schönes liebes Buch, und man muß es nur zu lesen verstehen, aber die Bibel selbst widerspricht jener Auffassung von Religion und die alten Propheten donnern mit feurigen Zungen gegen solches kirchliche Formelwesen!

Als ich Sie vor Kurzem – wir hatten über die Forderung der Durlacher Versammlung für freie rationelle theologische Forschung gesprochen – über Ihre Meinung darüber und über die freisinnige badische Geistlichkeit fragte, blitzten Ihre Augen zornig auf. „Hätte ich die Macht in Händen,“ sagten Sie, „und dürfte ich diese Macht ungestraft ausüben, ich ließe diese Versammlungen mit Bajonneten auseinandersprengen und wenn es blutige Köpfe setzte!“ – Madame, diese harten unweiblichen Worte, Sie entschuldigen meine Offenheit, dieser unchristliche und, was mehr ist, dieser gefühllose Ausruf kam aus demselben schönen Munde, der täglich eine Unzahl Gebete lispelt und über jede menschliche Lust als eine Sündhaftigkeit des Erdenwurms mitleidig die Lippen zuckt. Derselbe Mund, der kurz vorher von christlicher Demuth und Liebe gesprochen, der nur gewöhnt ist, in süßen sanften Worten von himmlischer Seligkeit und christlicher Duldung zu reden, derselbe Mund spricht unchristlich und ohne Bedenken das Todesurtheil über den Bruder aus, wenn sein Glaube nicht mit dem Ihrigen stimmt. Es ist sehr traurig, Madame, daß Ihr Glaube den Haß fordert und Ihre Selbsttäuschung Sie im christlichen Seligkeitsrausch zu Fanatismus und Rache führt.

Was eine wahrhafte Religion sein will, das kann den Fortschritt und die Freiheit des Denkens nicht von sich ausschließen. Denn es steht fest, daß nur diese Ziele die Menschheit adeln und, um mich eines kirchlichen Ausdrucks zu bedienen, zur Aehnlichwerdung mit der Gottheit führen. Ihre Religion, Madame, ist eine Religion des Stillstandes, der Unfreiheit und Entwickelungslosigkeit und folglich Aberglauben oder Unglauben. Sie verdammen den Verstand in Religionssachen, Sie wollen nur glauben und nicht denken, nur äußere Formen und nicht den sittlichen Gehalt, und doch müßten Sie aus der Bibel und der Geschichte wissen, daß die weltbezwingende Mission des Christenthums nur in der Verbreitung und Verkörperung jener sittlichen Ideale bestand, welche Jesus und seine Jünger gepredigt haben. Die Pflichten des Menschen gegen die Menschen, die Liebe und die Demuth, die Duldung und das Wohlthun sind die ergreifenden Heilsworte, welche die Apostel der Menschheit verkündigt haben. „Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse, so daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre mir es nichts nütze! Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe stellt sich nicht ungebehrdig, läßt sich nicht erbittern und trachtet nicht zu schädigen; die Liebe erträgt Alles, duldet Alles, die Liebe wird nicht müde.“ – Das sagt der Apostel, Madame, und nun erlauben Sie mir die Frage, wie Sie Ihre Frömmigkeit mit dieser heiligen Religion vereinen wollen.

Es war ein eisigkalter December-Abend, als ich das letzte Mal bei Ihnen war. Draußen tobte der Nordwind und trieb die Schneeflocken gegen die dichtgeschlossenen Fenster, hinter denen wir in warmer Behaglichkeit saßen. Sie waren sehr schön an jenem Abend, sehr reizend! Ich erinnerte mich der Thränen, die in Ihren Augen standen, als Sie vor wenigen Tagen bei der Christbescheerung des reichen Finanzraths H. mit dem Teller in der Hand von Stuhl zu Stuhl gingen und mit rührender Stimme um ein Christgeschenk baten für das Hospital der barmherzigen Schwestern, deren Verdienste Sie nicht genug rühmen konnten. Sie waren so lieb in jener Stunde, so engelmild! Alle die geputzten Herren und Damen, die sonst kein Mitleid im kühlen Busen tragen, sie sahen Ihre Thränen und ihre Börsen flogen auf den Teller, der bald nicht mehr zureichte, die Gaben all’ zu fassen. Ich erinnerte mich dessen und, Madame – ich glaubte an die Wahrheit Ihres Gefühls!

Da trat eine Arbeiterin Ihres Hauses in’s Zimmer. Ein feines, blasses Gesichtchen, auf dessen Zügen die vielen Nachtarbeiten eine lange, trübe Geschichte eingegraben. Schüchtern legte sie die Arbeit vor und gleichzeitig die Rechnung. „Morgen ist Zinstag,“ sagte sie leise, „und Madame waren früher so gütig mir zu versprechen … meine vier Kinder sind jetzt ohne Holz und ohne Brod …“ – Die Frau bat so rührend! Schweigend gingen Sie zum Schreib-Secretair das Verlangte zu holen und schon glitten die blanken Silberstücke auf den Tisch, schon heiterte sich das blasse Gesicht der Frau sichtbar auf, als Sie plötzlich inne hielten. „Frau Müller,“ wandten Sie sich zu der Harrenden, „wie kommt es, daß Sie meine Empfehlung unbeachtet ließen und die Kirche des Pastors M. nicht besuchten? Ich fand Sie am letzten Sonntag nicht dort.“

Ueber das Gesicht der Frau glitt ein wehmüthiges Lächeln. „Madame,“ sagte sie schüchtern, „wir arbeiten des Nachts durch, um das Nöthige für Holz und Brod zu verdienen, und dürfen kaum an einige Minuten Rast, viel weniger an’s Kirchengehen denken. Manches Mal wohl möchten wir gern das Gotteshaus besuchen, aber die Noth läßt’s nicht zu. Und beim Pastor M., sagt mein Wilhelm“ – hier stockte die Stimme – „bei dem sei auch kein Trost zu holen für Unsereins, der gehöre zu den Frommen, und seine Predigten wüßten nichts von Liebe und nähmen das bischen Vertrauen noch, was man zu sich und den Nebenmenschen habe. Deshalb, Madame, nehmen Sie’s nicht übel, deshalb bin ich nicht gegangen!“

Ich sah Ihnen scharf ins Auge, keine Wimper zuckte. Aber die Lippen waren fest aufeinander gepreßt und nur in den Winkeln zitterte es wie fernes Wetterleuchten. Sie nahmen die Arbeit der Frau zur Hand. „Frau Müller,“ sagten Sie dann und musterten die Nähte, „es thut mir leid – ich sehe eben hier, daß diese Lieferung durchaus lüderlich und schlecht genäht ist – ich kann sie so nicht brauchen! Packen Sie wieder ein und incommodiren Sie mich nicht weiter; ich werde Sie rufen lassen, wenn ich Ihrer Arbeit bedarf!“

Madame! draußen schnitt ein eisigkalter Wind, vor Ihnen stand eine Frau, eine Mutter von vier Kindern und bat mit Thränen um die wenigen Groschen, die sie in schlaflosen Nächten, vielleicht frierend und hungernd, erarbeitet hatte. Umsonst pries die Arme ihre Arbeit an, umsonst bat sie nur dieses Mal zu verzeihen, wenn hie und da die Naht weniger rund und weniger accurat als sonst ausgefallen … die viele Nachtarbeit … die Schwäche der Augen … Liebenswürdig und geistreich, wie immer, begannen Sie ein Gespräch mit mir und sahen nicht, wie die blasse Frau noch blässer geworden und todtenbleich mit zitternden Händen die Arbeit zusammenraffte und stumm zur Thüre hinauswankte, jeder Hoffnung baar, ohne Geld, ohne Hülfe für ihre vier Würmer da oben im kleinen Dachstübchen. Und diese Frau – daß sich Gott erbarm’, ihr ganzes Verbrechen bestand darin, daß sie nicht glaubte, wie Sie!

Seit jenem Abend, Madame, habe ich Sie nicht wieder gesehen. Kurz nach der Scene empfahl ich mich und ging der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_656.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)