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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

und wenn sie auseinander gehen, muß Eugenie mich wenigstens im Schlafzimmer finden. Morgen wird es Dir an Zeit zur weiteren Besprechung mit mir nicht fehlen. Ich weiß, daß Ihr Alle nicht klug aus mir werdet und erfahren möchtet, was mich hier zurückhält. Es ist mehr als ein leerer Einfall oder ein noch leererer Trotz.

„Im August fand ich einmal, da ich mir aus des Vaters Zimmer etwas holen wollte, eine Schublade seines Schreibtisches geöffnet, die ich bisher gar nicht gekannt und die sich mit Papieren gefüllt zeigt. Ich war neugierig – oder heiß’ es eine Ahnung! – und griff nach dem obersten. Es war ein Brief aus dem Jahre 1840 und enthielt die lakonische Anfrage, wie Seine Excellenz über die alten, ihm bekannten Punkte denke? Der Betreffende lebe und werde, ob auch noch in der Ferne, wohl im Auge behalten. Von einem Aufgeben der alten Ansprüche sei keine Rede. Es hänge von Excellenz ab, ob er durch billiges Nachgeben die Sache ausgleichen oder durch Fortsetzung des bisherigen Widerstandes die Aufdeckung der ganzen alten schmählichen Geschichte und die offene Verfolgung der unverjährbaren Rechte des Betreffenden erzwingen wolle. – Ein Name war nirgends genannt, ein Ort nicht angegeben.“

„Ich legte den Brief hin und nahm das folgende Schriftstück – ich bekenne Dir, Leopold, daß ich schon weniger neugierig als bestürzt war, solche Geheimnisse im Besitze meines Vaters zu finden. – Dies war datirt vom Jahre 1800 und von hier, von Dernot aus, und ein Brief des Barons August an seinen Bruder, unseren Großvater. Er war kurz und meldete, daß der Schreiber sein Testament gemacht habe –“

(Fortsetzung folgt.)




Ein alter Liebling der deutschen Jugend.


Unter den Männern, welche das Weimar der Herzogin Amalie und ihres Sohnes Karl August zum strahlendsten Glanzpunkt deutschen Geisteslebens erhoben, wird jetzt selten auch Derjenige mitgenannt, dessen Andenken wir mit diesen Zeilen und dem sie schmückenden Bilde erneuen wollen. Neben dem Viergestirn „Goethe, Schiller, Herder, Wieland“ erblaßten alle anderen Weimarischen Lichter am Literaturhimmel, wenn sie auch der öffentlichen Beachtung deshalb nicht entgingen. Dennoch war es dem Einen beschieden, eine nicht geringe Zeit lang den Herzen der gesammten deutschen Jugend – ja wir dürfen dazu die jugendfrisch gebliebenen Herzen jedes Alters rechnen – näher zu stehen, wenigstens im Hause ihr viel intimerer Liebling zu sein, als jene vier öffentlich Alleingefeierten, und dies Alles war ihm gelungen durch einen einzigen glücklichen Griff in die Schätze unseres Volksthums. Wir meinen Musäus und seine Volksmärchen der Deutschen.

Schon zwanzig Jahre vor dem ersten Erscheinen der Volksmärchen war Musäus als erzählender und humoristisch-satirischer Schriftsteller aufgetreten, aber alle diese Schriften, wie verdienstlich sie an sich waren und als wie geistvoll und formgewandt ihr Verfasser sich durch sie erwies, sind dennoch mit seinem Namen bis heute über der Fluth der Vergessenheit erhalten worden nur durch seine Volksmärchen und durch die aus ihnen am reinsten sprechende Originalität und Liebenswürdigkeit seines Charakters.

Diese Volksmärchen heißen nicht blos „Volksmärchen der Deutschen“, sondern sie sind ein so deutsches Buch, wie nur je eines von einem Deutschen geschrieben worden. Wollen wir alle guten und schlimmen Eigenschaften unsers Volkscharakters kennen lernen, wir finden sie darin, alle übertragen auf die lebensvollsten, dem Leben selbst abgelauschsten Gestalten, und jede Gestalt bleibt sich treu in ihrem Wesen durch alle Wandelungen ihres Schicksals und ihrer Erscheinung bis zum Ende. Und diesem Gesetze strengster Correctheit in der Griffelführung sind nicht nur die Menschen dieser Märchen unterworfen, auch die spukenden Geister, die gespenstischen Geschöpfe uralter Volksphantasie müssen sich ihm beugen, sie müssen, trotz der kühnsten Extravaganzen und muthwilligsten Launen, die der Dichter ihnen gestattet, sich menschlich behandeln lassen, menschliche Seiten herauskehren, um unserer Theilnahme auch für ihr Schicksal werth zu sein. Wir durchleben in und mit jedem dieser Märchen, kein einziges ausgenommen, Stunden seligsten Selbstvergessens, wandern mit dem Geiste glücklicher Kinder durch die zaubervolle Wunderwelt und ahnen kaum, mit welcher wahren Kunst sie aufgebaut und ausgeschmückt ist.

Es ist aber noch ein anderer Zauber mit im Spiele, wenn wir zu unseren lieben Volksmärchen immer wieder zurückgelockt und dann so schwer von ihnen losgelassen werden: das ist der Zauber der Sprache, an der noch manche Generation sich bilden kann, ehe die Zeit über eine solche Frische, Kraft und Schönheit Herr wird; und endlich sind diese Märchen nicht Spielsachen für kleine und große Kinder, sondern Spiegelbilder des menschlichen Lebens, aus denen die lieben Menschen sich selbst und das, was ihnen zum Wohl und zum Uebel gereicht, so klar erkennen, wenn sie wollten, wie vom väterlichsten Lehrer und Führer auf dem Wege durch’s Leben.

So sind unsers Musäus’ Volksmärchen. Und wenn man nun über seine Persönlichkeit erfährt: „daß er sich in Aller Herzen stahl und man in Weimar nur den Professor Musäus zu nennen brauchte, wenn man ein freundliches Gesicht sehen wollte,“ so wird man sich gern in seine nächste Nähe bis in sein Haus und seine Familie führen lassen.

Folgen uns denn die Leser zu einem Besuch bei dem alten Liebling der deutschen Jugend. Ein Student hat ihn von Jena aus gemacht, wo er in der Mitte der achtziger Jahre in demselben Hause am Markte (der Hofapotheke, die später durch den originellen Wilhelmi in so eigenthümliche Beziehungen zu Weimar und seinen Größen gekommen ist) wohnte, wo dreißig Jahre früher Musäus gewohnt haben soll. Letzteres versicherte ihn eine alte Magd, die noch aus jener Zeit im Hause diente und große Stücke auf „ihren berühmten Professor“ hielt, der sie noch immer begrüße und beschenke, so oft er nach Jena komme. Einen Gruß von dieser alten Magd benutzte nun der Student zur Einführung bei Musäus. Ich gestehe mit freudigem Gefühl, daß dieser Bruder Studio mein Großvater war. Die Schilderung des Besuchs fasse ich aus meiner Knabenerinnerung zusammen, aus alten Tagebuchblättern und Briefen des Großvaters an seine Eltern, lasse aber auch später von mir in Jena und Weimar Erfahrenes dabei nicht unbeachtet und sage zugleich Moritz Müller, dem Verfasser eines trefflichen „Lebens- und Schriftsteller-Charakterbildes des Musäus“ Dank, der mir das vom Großvater in die junge Seele gelegte Dichterbild, wie noch kein Anderer, herrlich wieder aufgefrischt hat.

Der Großvater erzählt also:

„Ich paßte den Herrn Professor auf dem Weg nach seinem Garten ab, richtete die Grüße der alten Magd aus und sagte ihm, daß sie mich zu ihm sende, worauf er zu mir sprach: ‚Kommen Sie und sagen Sie mir vor Allem, wer Sie sind, was Sie studiren, wo Sie wohnen und was Sie wünschen, falls ich Ihnen dienen kann.‘ Während ich, neben ihm dahinschreitend, das Meinige vorbrachte, betrachtete ich meinen berühmten Nachbar recht genau und fand, daß die Alte mir ihn wahr geschildert hatte. Der Rock des Herrn Professors war freilich verschabt und grau, die Krause schief unterm Hals und das Haupt übel frisirt, aber was zwischen der schlechten Locke und Krause hervorsah, das war ein Mannesantlitz, unter dessen Brauen bei aller Liebe, Freundlichkeit und Güte ein Geist hervorleuchtete, der mich Studentlein den Respect nicht vergessen ließ, trotzdem der beredte Mund weder mit lateinischer noch griechischer Gelehrsamkeit um sich warf. Ich sehe es im Geist noch heute, dieses große, freie, Vertrauen predigende Auge, den sehr hübsch geformten Mund, die hohe Denkerstirn, die kühn heraustretende Nase und die Jugendfrische, die über dem ganzen Antlitz wie im Ton der Stimme herrschte. Und wie imponirte mir durch die Bestimmtheit und Schärfe seiner Fragen, die sich mit seiner Freundlichkeit gar wohl vertrug, der tüchtige Pädagog und der Mann von ungewöhnlichem Wissen und Denken! Als wir einige Schritte auf schattenlosem Wege gegangen waren, spannte Musäus seinen Regenschirm zum Schutz gegen die stechende Sonne über uns Beide aus. Er gestattete es, daß ich ihm die Last abnahm, denselben

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_230.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2017)