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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

anmalen sehen, wenn nicht zufällig eines jener oben erwähnten kleinen Besitzthümer, die Uhr, die Geldtasche, die Schnupftabaksdose und dergleichen, oder ein durch den Verwesungsproceß nicht alterirtes besonderes Merkmal auswies, wer der entstellte Leichnam gewesen war, ehe ihn das schlimme Wetter traf. Und mit welcher laut- und athemlosen Spannung wurde allemal nach diesen Kennzeichen gesucht! Wie drängten sich die Menschen in dem entsetzlichen Leichenschuppen zusammen, wenn man die eingebrachten Todten von ihrer Hülle befreite !

„Die Geldtasche da,“ rief einer der beim Leichentransporte beschäftigten Arbeiter aus, „wer kennt sie?“

Alles schwieg – denn Niemand kannte sie.

„Es sind sechszehn Neugroschen darin! Wer weiß wohl, wem sie gehört haben?“ fuhr der Mann fort – doch abermals keine Antwort.

„Unkenntlich!“ lautete jetzt das Commando, und durchdringender, herzzerreißender erhob sich das Schluchzen der umstehenden Frauen, wenn der so bezeichnete Sarg rasch zur angrenzenden Gruft getragen wurde. Barg er doch vielleicht das, was vom Liebsten, das sie hienieden besaßen, noch übrig war – ein ununterscheidbares Stück im unabsehbaren Meere des allgemeinen Jammers!

Eine andere Leiche rollte in den Schuppen ein – das entstellte Gesicht war von Niemandem zu recognosciren; da, als man sie umwandte in ihrem Vehikel, entfiel dem Grubenkittel ein Zollstab, sie war mithin der Leib eines Zimmerlings, und – ach, man kannte das kleine Werkzeug nur zu wohl! – ein allgemeiner Schmerzensschrei entrang sich der Versammlung, in welchem das stillere Weinen der näheren Angehörigen des Todten fast erstickte, und es war einer jener Unglücklichen, von denen auch die Gartenlaube bereits erzählte, jener Zimmerling Janetz, welcher mit mehreren seiner Gefährten unten im Schacht an den Thürpfosten des Zimmerwerks in wenigen Kreideworten ein ergreifendes Denkmal ihrer Leiden und der treuen Liebe hinterlassen, mit der die armen Erstickten noch im letzten Augenblicke an Weib und Kind, an Freunde und Cameraden gedacht haben. In der That die Entdeckung dieser Inschriften und das am selben Tage, nur wenige Stunden früher erfolgte Auffinden des Schichtenbuches, in das der Untersteiger Ernst Bähr I. von seinen vergeblichen Rettungsversuchen Kenntniß gegeben, zählen zu den traurigsten Episoden des großen Trauerspiels.

„Wenn wir doch Das niemals erfahren hätten!“ wehklagte einer der Obersteiger. Könnte hier blos die augenblickliche Rücksicht des Mitleids mit den Hinterlassenen der Getödteten und unserer eigenen persönlichen Gefühle in Frage kommen, so möchten wir einstimmen in diesen Wunsch, allein sowohl im Interesse einer wissenschaftlichen Erörterung der Katastrophe, an der es bis jetzt noch gänzlich fehlt, als namentlich einer künftigen thunlichst möglichen Sicherstellung der deutschen Kohlenbergleute, insbesondere der auf den Burgk’schen Werken, dürfen wir die Entdeckung dieser erschütternden Documente nicht hinwegwünschen. Es sollten ja ohnedem nicht die einzigen bleiben, und die nachmaligen Auffindungen derselben Art legten, wie es unsere Leser bereits aus der vorigen Nummer der Gartenlaube wissen, noch entsetzlicheres und rührenderes Zeugniß ab von den letzten Leidensmomenten und der frommen Fassung mehrerer der im Neuen-Hoffnungsschachte Verunglückten, wo, wie wir wohl annehmen dürfen, fast alle den Erstickungstod gestorben sind; sie thaten dar, daß noch neun Stunden nach der Explosion eine Anzahl der zur Frühschacht angefahrenen Bergleute am Leben war, die sich, denn sie lagen nicht etwa unter Trümmern verschüttet, hätten retten können, wenn die „ganz bruchfreie Wetterstrecke und der Weg zur Tagesstrecke des Hoffnungsschachtes“ – so drückt sich der officielle bezirksärztliche Bericht aus – nicht „so concentrirte irrespirable Gase enthalten hätte,“ daß man dieselben nicht betreten konnte. Dieser Umstand wiegt jedenfalls schwer bei der Beurtheilung des Ereignisses und der größern oder geringern Verschuldung, welche Bergherrn und Grubenleitung treffen!

Welchen Eindruck die letzten Lebenszeugnisse der armen Bergleute in der Umgebung der Schächte hervorbringen, wie sie den Schmerz der Leidtragenden in’s Unendliche verschärfen, auf’s Neue zur Verzweiflung anfachen, wie sie unsere nimmerruhende Phantasie beschäftigen mußten, die ja das Grausige in das noch Grausigere zu malen liebt, kann sich wohl Jeder denken. Hatten die Unglücklichen, so hieß es, die Katastrophe noch um fünf, ja um acht und neun Stunden überlebt, wer mochte dann bürgen, daß es nicht zwei und drei und mehr Tage geworden waren, und daß alle diese Bejammernswerthen nicht einem langsamen Hungertode hatten elendiglich erliegen müssen? Aller man fand die sichere Bürgschaft dafür, daß ihnen dies Schicksal ihrer schwerer geprüften Lugauer Cameraden erspart geblieben ist: bei allen diesen Abschiednehmenden war das Frühstück noch so unversehrt in den Taschen, wie es ihnen die Frau, die Mutter, die Schwester zur Morgenschicht mit auf die Fahrt gegeben hatte!

Das große Grab[1] draußen hatte inzwischen auch eine einigermaßen andere Physiognomie gewonnen; es sah weniger roh, weniger steinbruchartig aus, als neulich, seine Ränder waren geglättet, auf dem östlichen breitete ein aus Laubgewinden errichtetes Kreuz seine Arme wie segnend aus über den improvisirten Friedhof und die Zweihundertunddreiundzwanzig, die in ihm schlafen, und von den Särgen schimmert nur noch da und dort eine unbedeckte Querwand zwischen den Steinschichten hervor. Ein eigenthümliches Geschick hat es gefügt, daß unter jenen Zweihundertunddreiundzwanzig auch der Mann mitschlummert, der so manchem seiner bergmännischen Genossen die letzte Ruhestätte bereitet hat: der Döhlener Todtengräber. Er wurde unter den Erstickten im Hoffnungsschacht gefunden, er mit seinem Sohne, und hatte sich gleichsam seine Grabschrift selbst geschrieben. „Hier liegt Vater und Sohn!“ stand von seiner. Hand an einem Schachtstempel angeschrieben.




„Der erste Act des herzergreifenden Trauerspiels ist zu Ende,“ schloß der bezirksärztliche Bericht von der Katastrophe. Wenn auch in anderem Sinne, sagt dasselbe auch der Berichterstatter der „Gartenlaube“; vor der Hand hat er von der Unglücksstätte Neugesehenes und Neuerlebtes nicht zu berichten. Es ist daher vielleicht der geeignetste Moment, einige Details nachzutragen, die in seinen letzten Mittheilungen keinen Raum finden konnten, und einen kurzen Rückblick auf das Begebniß zu werfen, so weit es in seinen Ursachen und Wirkungen bis jetzt ermittelt worden ist, denn auch jetzt muß ein Endurtheil über die Katastrophe noch ausgesetzt bleiben, bis von völlig unparteiischen Fachmännern ausführliche Berichte darüber vorliegen. Vorläufig kann die nicht sachlich competente Presse nur soviel constatiren, daß „im Staate Dänemark“ doch Eines oder das Andere „faul“ gewesen ist, vielleicht mehr, als man anfangs geglaubt hat. Und sie hat die Pflicht, dies zu constatiren, denn die Sicherheit von Tausenden von Arbeitern, die an sich in noch weit höherem Grade als Soldaten und Seeleute tagtäglichen Lebensgefahren ausgesetzt sind, hängt von durchgreifenden Reformen im Betriebe des sächsischen und speciell des Burgker Kohlenbergbaues ab. Das Unglück von Burgk ist in seiner Ursache in keine Parallele zu bringen mit dem von Lugau – unleugbar aber ist den entzügelten Naturgewalten, denen Menschenwille und Menschenkraft machtlos gegenüber stehen, nicht allein die Schuld der beispiellosen Katastrophe vom zweiten August beizumessen.

Schon in meinen: ersten Bericht habe ich auf eine gewisse laxe Praxis hingedeutet, die jedenfalls nicht ohne Einfluß auf das Unglück geblieben ist; fachliche Darstellungen, denen ich die Verantwortung ihrer Anschuldigungen überlassen muß, sprechen jetzt noch von ganz anderen Mißständen und Mangelhaftigkeiten auf den Burgker Werken, die zum Theil die unerhörte Tragödie in Scene gesetzt haben: von einer ungenügenden Wettercirculation, ohne welche bei dem Tiefbau der Steinkohlenschächte von einer Sicherheit der Arbeiter auch nicht im Entferntesten die Rede sein könne, und ganz besonders von dem Fehlen jener künstlichen Ventilatoren, mittels deren man gegenwärtig nicht blos in Belgien und England, im Saarbecken und in Westfalen, sondern auch in anderen Gruben des Plauenschen Grundes die beständige Lufterneuerung in den tiefen Kohlenschächten im Gange

  1. Zu unserer Illustration von der Grabstätte hinter dem Segengottesschacht und zu dem im vorigen Artikel hierüber Mitgetheilten müssen wir hier noch die Erklärung fügen, daß die große Gruft wohl gegen fünfzehn Fuß tief aus steinigem Boden ausgehauen werden mußte und daß am Rande derselben sich nach beseitigtem Steingerölle Vertiefungen bildeten, welche man däzu benutzte, um die ersten (etwa sechzehn) Särge zur Hälfte da hinein zu schieben, während man die andere Hälfte später mit Stein- und Sandgeröll überdeckte. Unser Bild zeigt mehrere solcher halbvergrabener Särge.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 572. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_572.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)