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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

diese altgermanischen Verse sind nur ein insectenartiges Durcheinanderkrabbeln. Auch mit der Elle lassen sich diese Verszeilen nicht messen; denn die Einen sind noch einmal so lang als die Anderen. Und doch sind es immer vier Hebungen und vier Senkungen; doch in den Senkungen – da wimmelt’s durcheinander von Silben und Wörtern.

Ach, Wellen und Wolken sind Wahngebilde –

so lautet das uns verständliche und allerdings vorherrschende Versschema. Daneben finden sich aber auch Versungeheuer, wie das folgende:

Plätscherten mit den Schweifen und plauderten geschwätzig,

und dieser wie Gummi Elasticum ausgedehnte Vers soll in dasselbe Schema zusammenschnurren, wie der vorausgehende! Das rhythmische Gefühl läßt sich durch die malerischen Wirkungen nicht bestechen, die durch die ausnehmende Freiheit der metrischen Bewegung erreicht werden können. Statt des volltönenden Reims aber sollen wir uns mit einem altgermanischen Ersatz begnügen, mit dem Antönen gleichlautender Consonanten, welches doch nur als ein flüsterndes Suchen des Wohlklangs erscheint.

Nach einer Concilsitzung.
Nach der Natur aufgenommen von Julius Jury in Rom.


Jordan beherrscht diese erneuerten urwüchsigen Formen mit seltenem Talent und entlockt ihrer Sprödheit manche anmuthende Wirkung. Noch bedeutender zeigt sich seine dichterische Gabe in der Darstellungsweise selbst, welche fast immer das ruhige Gleichmaß erzählender Dichtung wahrt und durch Vergleichungen von großer Klarheit und Schönheit gehoben wird. Ein beträchtlicher Theil dieser behaglich ausgeführten Bilder ist dem Naturleben entnommen und verräth eine scharfe Beobachtung und genaue Kunde der Vorgänge in der Thier- und Pflanzenwelt, wie der Erscheinungen, die das Spiel der elementarischen Gewalten darbietet. Dies Leben, das dem ewig gleichen Gesetz gehorcht, verbindet auch über die Kluft der Zeiten hinüber die anders redenden und denkenden Menschengeschlechter.

So sind Jordan’s „Nibelungen“ eine talentvolle Erneuerung urzeitlicher Dichtung; nimmer aber ist die Wiedergeburt fertiger Sagen die preiswürdigste Aufgabe der Poeten. Mögen sie aus dem Geiste ihres Jahrhunderts herausdichten! So haben Dante, Shakespeare, ja selbst die alten Skalden gedichtet. Aus den alten Hünengräbern werden nur rostige Schwerter herausgewühlt; aber im Sonnenschein funkeln die guten Schwerter, welche die Ritter des Geistes schwingen im Dienste der Freiheit und Humanität, der erhabenen Ideale der Neuzeit.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_348.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)