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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Gutmüthigkeit blickte; ein starker Vollbart, halb grau, halb blond – eine Erscheinung, wie wir uns die unbeugsamen und starren Anhänger ihrer Ueberzeugung und ihres politischen Glaubensbekenntnisses vorzustellen pflegen. Es war eine hochherzige, edle Natur; mag er in der Wahl seiner Mittel auch gefehlt haben, so steht die Reinheit seiner Absichten über jede Anfechtung erhaben da, und darum wird sein Name in der Reihe der „Unversöhnlichen“ immer mit Ehren genannt werden.

Th. W. 




Der letzte Krieg um den Rhein.
Nr. 1. Aus der Stadt des achtzehnten October.

Es war Nachts zehn Uhr. Und so spät noch Licht in der Sacristei der Thomaskirche? Die äußere Thür nur angelehnt – es wird keine Sünde sein, leise näher zu treten. Die Stimme des Geistlichen ist vernehmbar, tief bewegt, und das Schluchzen bittersten Weinens begleitet sie oft. Hier ist kein Geheimniß, es ist eine kirchliche Handlung, die keine Zeugen scheut. Ja, es war eine Trauung! Die Braut im Schmuck des Kranzes, der Bräutigam feldmäßig marschbereit im Landwehrwaffenschmuck. Und auf der nächsten Kirchenbank wimmerte, den Kopf in die Hände gepreßt, ein altes Mütterchen. Da schlossen Zwei den Bund für die Ewigkeit im Augenblick, wo der Ruf des Vaterlandes sie vielleicht für immer auseinanderreißt. Die feierliche Handlung war vorüber, selbst bis in’s tiefste Herz erregt, schied der Geistliche mit seinen Segenswünschen von dem Paare, und zwischen Mutter und Gattin schritt der Wehrmann in das laute Wogen der Straßen hinein, dem Bahnhof und dem letzten Trennungsschmerze zu.

Und solcher Trauungen hat Leipzig in wenigen Tagen über fünfzig in seinen beiden protestantischen Hauptkirchen und in der katholischen Kirche erlebt. Wer hätte in solchen kleinen Gruppen, wie sie aus den Gotteshäusern herauskamen mit den verweinten Augen und im Schmerz des Scheidens im innigseligsten Augenblick des Lebens aneinandergeschmiegt, Brautpaare wiedererkannt! Wahrlich, wer eine solche Hochzeit gehalten, hat’s wohl verdient, daß öffentliche Theilnahme nie von ihm weiche! –

Wie noch nie in unserem lieben Heimathlande hat diesmal die Eintracht auch den weltlichen und geistlichen Behörden die Hände frei gemacht von den Fesseln hemmenden Gesetzes und Herkommens. Noch ehe die Ministerien die öffentliche Erlaubniß zu Trauungen ohne Aufgebot für die in’s Feld ziehenden Wehrleute und Soldaten ertheilt, hatten die Geistlichen die Nothwendigkeit der Maßregel erkannt und vorher in Ausübung gebracht. Denn das Herz und die Noth trieben die Verlobten mit gleicher Gewalt zum Altar, und das Kriegsgebot duldete nicht erst das gesetzliche Aufgebot; an dessen Stelle trat ein „Ledigkeitseid“. Selbst der Glaube ließ sich keinen Unterschied aufdringen. Katholische Bräute und Bräutigame eilten der ersten besten protestantischen Kirche zu, als ob sich’s von selbst verstände, daß in dieser Zeit vor Gott Alles gleich sei! O krönte auch diesen reinen Volksglauben der Sieg im Vaterlande! – Nichts bedurfte das Brautpaar, als der Mann die Marschordre, die Braut die Einwilligung der Eltern, und in nicht seltenen Fällen mußte diese telegraphisch beschafft werden. Der Mangel an Taufscheinen konnte kein Trauungshinderniß mehr sein. Auch an keine Stunde band sich der heilige Act. Der Geistliche stand jede Stunde dazu bereit und, wie wir gesehen haben, bis in die späte Nacht segnete er noch die herbeieilenden Paare.

Das Jahr 1813 ist in Deutschland wiedergekehrt, das Wunder der Einigung des ganzen Deutschlands ist, nach einem halben Jahrhundert vergeblichen, oft blutigen Ringens, in wenigen Tagen geschehen – und entschlossen zum Kampf bis zum vollendetsten Sieg steht die gesammte Nation vor ihrem letzten Krieg um den deutschen Rhein!

Vergönnen wir heute, nach fast vier Wochen, uns einen Rückblick auf den Anfang der großen Bewegung, wie er uns in Leipzig, der alten Schlachtenstadt, vor Augen trat. Ist’s auch nur das Bild der Begeisterung in einer Stadt, so wird es, weil überall in gleicher Weise hervorgetreten, doch ein Gesammtbild unserer Nationalerhebung im Kleinen bieten, und, was vielleicht betont werden darf, eben in Leipzig.

Am vierzehnten Juli fiel der erste unheimlich rothe Schein auf den idyllischen Frieden unserer Schlachtenebene. Aus französischem Ministermunde erfuhr die erstaunte Welt, daß die spanische Krone Preußen und Deutschland, ja vielleicht Europa den so theuer bewaffneten Frieden kosten werde. Schon der folgende Tag bestätigte das Unglaubliche; der Krieg ist erklärt, beginnen soll der Kampf der zwei gewaltigsten Kriegsmächte Europas und der blühende Garten unseres Vaterlandes zum Schlachtfelde werden. Und wie steht die Nation vor dieser furchtbaren Zukunft?

Der Umschwung der Geister, der Aufschwung der Herzen von diesem Augenblick an gehört zu den Wundern der Weltgeschichte. Jede Brust athmete auf wie von schwerem Alp befreit, der sie seit Jahren gepreßt: endlich eine Erhebung ohne jeden Hemmschuh der Seele, eine Erhebung des ganzen Menschen, des ganzen Volkes! - Noch vor vier Jahren zerriß uns ein Bürgerkrieg, in welchem von dem halben Deutschland jeder Sieg als eine Niederlage beklagt, jede Niederlage als ein Sieg begrüßt wurde. Und jetzt?

Schon diese eine Stadt allein zeigt uns das ganze in einem Gefühl glückselige deutsche Volk! Wo sind Nationalliberale, wo Fortschrittler und Conservative? Ja, geradezu Unerhörtes: die Studenten, in ihrem Parteitreiben allen Jammer Deutschlands mit Jugendüppigkeit überbietend, sich gegenseitig bekämpfend, ja oft genug beschimpfend und erniedrigend, seit fünfzig Jahren nie zum Frieden gekommen, – die Studenten mit und ohne und aller Farben ein Herz und eine Seele, alle kampfbereit für das plötzlich einige Vaterland gegen den einen bis in den Tod verhaßten Feind.

Selbst der Gletscher unserer Alpen ist ein Bild dieser Bewegung. Wie er alles Unreine aus sich herausstößt und von sich wirft, so verfährt der patriotische Drang dieser Zeit gegen jedes unreine Element in unserem öffentlichen Leben, und so hat er nicht geruht, bis einer zum Ekel vaterlandsverrätherischen Zeitung durch die Verhaftung des Redacteurs ein vorläufiger Stillstand geboten war.

Steigt heute nicht Arndt wieder auf von den Todten, hören wir nicht Körner’s Ruf, donnern an unser Herz nicht Rückert’s geharnischte Sonette wie heute erst geschaffen? Und auch Schiller tritt in die Reihen der führenden Geister seines Volks. Das neue Theater faßte die Menge kaum, die zur Aufführung des „Wilhelm Tell“ strömte. Das war kein Schauspiel mehr, das war die dichterische Feier des mit beispielloser Frechheit herausgeforderten deutschen Nationalgefühls. So wie in diesen Weihestunden hat noch nie Schillers mannesstolzer Geist zu seinem Volke gesprochen. Wie in diesem Augenblick aus den Wogen des Tages herausgegriffen wirkten die Sprüche:

„Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben!“

„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen und Gefahr!“

„Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben
Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt –“

Und zu einer Mahnung an die Millionen Deutscher in aller Welt wurde des sterbenden Attinghausen letztes Wort:

„Seid einig, einig, einig!“

Das volle Herz geht über, es strömt in Reden und Gesängen daheim, es strömt in Adressen in die Ferne aus. Die Bürger richten sie von der „Guten Quelle“, einer zur politischen Börse erhobenen Lieblingswirthschaft der Leipziger, aus an die Könige von Preußen, Sachsen und Baiern, die Studenten an ihre Jugendgenossen in Süddeutschland und in Oesterreich. Viele Studenten folgen ihrer Fahnenpflicht zum Heere. Ihnen und Allen, die im Geiste mit ihnen sind, giebt der Rector der Universität (Friedrich Zarncke) einen Abschiedscommers in der Tonhalle. Wohin ist da wieder die alte Scheidewand gekommen zwischen Burschen, Philistern und Knoten? Alte und junge Bürger saßen zwischen den Studenten und Professoren und Alle fühlten sich als deutsche Männer und Jünglinge, innig vereint im Glück über das Zusammenleben in so großer Zeit.

Die öffentliche Stimmung wurde in wenigen Tagen aus der brausenden Begeisterung in das ernste stille Wirken des Bürgers

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_510.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)