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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

gethan, als es schon hinter seinem Rücken laut kichernd rief: „Commerzienrath Wilhelmi von Jena.“ „Wollt Ihr still sein, Ihr verfl–“ herrschte sich umdrehend der entlarvte Sultan den beiden neckischen, ihn verfolgenden Damenmasken zu. Schon aber rief man von der andern Seite vom Rücken her seinen Namen wieder, von allen Seiten umschwirrte ihn der „Commerzienrath Wilhelmi“. Endlich raffte er den Kaftan zusammen und ergriff vor seinem eigenen Namen die Flucht. Da zog aber die ganze Schaar der Masken lachend und rufend hinter ihm drein. Wie ein gehetztes Wild rannte er tobend und fluchend im Saale umher, bis er sich endlich durch eine Ausgangsthür rettete. Er hat nie wieder sich auf eine Wette mit dem Herzog eingelassen.

Wilhelmi spielte trotz der Späße, die man sich mit ihm erlaubte, noch keineswegs die Rolle eines Hofnarren. Er vergalt, wie wir bereits erfuhren, sehr oft mit gleicher Münze und entfaltete gegen Hoch und Niedrig die gleiche aus dem mächtigen Wahrheitsdrange seiner Natur hervorgehende Rücksichtslosigkeit. So nahm er, als er einstmals an den Hof bestellt war, wegen eingetroffenen fürstlichen Besuchs aber nicht gleich vorgelassen und deshalb ein Kammerdiener beauftragt wurde, ihn zu unterhalten und mit Wein zu regaliren, dies sehr schief, stand auf und ging mit den Worten: „Wenn Ihr mich jetzt nicht brauchen könnt, könnt Ihr ein andermal auch auf mich warten,“ zum Schlosse hinaus. Daß aber der Mann da eine verletzende Zurücksetzung empfand, wo die Hofleute Alles in bester Ordnung gefunden hätten, giebt uns wohl das Recht zu dem Schluß, daß beide Männer, der Herzog und der Bürger, ihre sehr häufigen Zusammenkünfte nicht blos zu Spaßmachereien benutzten, sondern daß wohl weit öfter der praktische Kopf und das grundehrliche Herz des Bürgers in ernsten Sachen vom Herzog zu Rath gezogen worden sei. Der Kern Wilhelmi’s ist zu tüchtig, um in ihm nur einen originellen und gutmüthigen Sonderling von derbster Sorte sehen zu dürfen.

Mit der Studentenschaft Jena’s stand Wilhelmi auf dem vertrautesten Fuße. Mehr als einmal trat er für ihre Interessen ein, gab den „armen Luders“ unter ihnen, um in seiner Sprache zu reden, Freitische und schoß ihnen, meist auf Nimmerwiedersehn, die Collegiengelder vor. Die Studentenschaft hielt es deshalb einmal an der Zeit, ihm öffentlich ihren Dank zu votiren. Man bringt ihm deshalb eines Abends ein Fackelständchen. Nach der Rede des Sprechers ertönte der hellerleuchtete Marktplatz von einem hundertfachen „Wilhelmi hoch! Hoch Wilhelmi!“ In der alten Hofapotheke blieb aber Alles still. „Standrede!“ rief endlich eine Stimme. „Standrede!“ wiederholte der Chorus der Fackelträger. Ohne Erfolg. In der Hofapotheke blieb’s stumm. Die „illuminirte“ Studentenschaar ließ sich aber so leicht nicht abspeisen, und die Rufe nach einer Rede drangen immer lebhafter hinauf nach den dunkeln Fenstern der Apotheke. Endlich, als der Sturm sich durchaus nicht legen wollte, erschien die bekannte weiße Zipfelmütze am Fenster. „Ruhe!“ gebot der Führer des Haufens. Rings Todtenstille. Da senkte sich droben die bekannte große Unterlippe nieder und unter der mächtigen Nase hervor quollen jene vier inhaltsschweren Worte, welche uns aus der ersten Ausgabe von Götz von Berlichingen als der Gruß des Letzteren an den Trompeter des kaiserlichen Executors bekannt sind, obwohl sie in den Cottaschen Goetheausgaben stets nur als ebensoviel Gedankenstriche sich präsentiren. Und als die Worte gesprochen waren, – schloß das Fenster sich wieder zu. Ueber den Markt hin brauste dröhnendes Gelächter und ein „Bravo Wilhelmi! Hoch Wilhelmi!“ ließ erkennen, daß man in Jena die kurze und bündige Standrede richtig zu würdigen verstand.

Hinter dieser grotesk-komischen Außenseite verbargen sich aber große innere Tugenden des Mannes. Nie verheirathet, machte er alle Bedürftigen zu seinen Kindern, und es war, als ob er darum nur ledig geblieben sei, daß dem Wohlthatsdrange seines Herzens keine Schranken gesetzt blieben. Alles, was bedrängt war und bei Behörden und sonst keine Hülfe mehr fand, ging in letzter Instanz zu Wilhelmi. Und in der That gelang es seiner großen Beliebtheit und ausgebreiteten Bekanntschaft, seiner Unerschrockenheit und am letzten Ende – seiner unwiderstehlichen Grobheit, Ziele zu erreichen, die auf dem gewöhnlichen Instanzenwege nicht zu erreichen waren. Um einer armen Mündel ihr in Frage gestelltes Vermögen zu retten, wandte er sich selbst nach Weimar an „Canzler, Räthe und Assessoren“, und es klingt ebenso muthvoll, als rührend, wenn er am Schlusse seines Gesuchs schreibt: „Sie sind die Herren, die am Ruder sitzen. Helfen Sie einer armen Waise und wenn es nur noch fünf Thaler herauszuholen wären, um dem Kinde ein Röckchen machen zu lassen.“

Alle Knauserei war ihm auf’s Tiefste verhaßt, Gastfreundschaft war die Losung des Hauses. Dieser Charakterzug kam namentlich bestimmend in Geltung bei Errichtung seines originellen Testaments.

Darin heißt es wörtlich: „Meinen Bruder und nächsten Intestaterben, den Hofbuchbinder W., habe ich recht lieb und würde ihm mein Vermögen am liebsten gönnen, wenn ich ihn damit glücklich zu machen wüßte; da ich aber überzeugt bin, daß er, wenn er auch mein ganzes Vermögen erhielte, doch nicht einen Bissen mehr essen oder ein Glas Wein mehr trinken würde, so würde seine Ruhe nur gestört werden, und ich werde daher zur Bezeigung meiner brüderlichen Liebe ihm nur ein Vermächtniß aussetzen.“

In diesem Testamente setzte er dann zu seinem Universalerben seinen früheren Provisor Rittler ein, nicht blos wegen der treuen Anhänglichkeit, die derselbe ihm bewiesen, sondern weil derselbe „in seiner Jugend auch ein armes Schindluder gewesen sei“. Wilhelmi wurde nämlich, um dies hier zu erwähnen, von der früheren Besitzerin der Apotheke, einer kinderlosen Wittwe, adoptirt. Er hatte als armer Currendschüler oft vor ihrem Hause gesungen und durch seine helle Stimme sich ihr Herz erobert. Mit Rücksicht darauf setzte er deshalb auch den Currendschülern ein Legat von vierhundert Thalern aus, wogegen dieselben verpflichtet sein sollten, jährlich an seinem Sterbetage ein paar Lieder an seinem Grabe zu singen.

Der Commerzienrathstitel, den er von seinem Herzoge erhielt, war deshalb auch nicht blos ein Ausfluß persönlicher Zuneigung. In dem Bestallungsdecrete heißt es vielmehr, er solle ihm beigelegt sein „mit Rücksicht auf die ihm nachgerühmte patriotische Gesinnung, welche derselbe bei verschiedenen Gelegenheiten zum Besten dortiger Stadt und des Armuths daselbst zu Tage gelegt, auch in der Hoffnung, daß er seine bekannte Devotion gegen Uns und Unser Herzoglich Haus fortsetzen und sich noch fernerhin um das Publicum verdient zu machen suchen werde“.

Die Summe seiner inneren Eigenschaften machte ihn denn auch, wie es in einem ihm zu Ehren gedruckten Liede heißt, „hochbeliebt bei Großen und bei Kleinen“ und verschaffte ihm gleichsam das Recht, nach Herzenslust grob zu sein und zu injuriiren. Jedenfalls hielt Karl August große Stücke auf Wilhelmi, nicht blos seiner Späße, sondern seines durchaus ehrlichen freimüthigen Charakters und seines sehr praktischen Verstandes wegen, der in schwierigen Fragen meist das Rechte traf.

Nur Einer war es, dessen Freundschaft sich Wilhelmi nie gewinnen konnte, das war sein großer Antipode – Goethe. Die sensible Natur und der feingebildete Geist des Letzteren, vielleicht auch die namentlich in der letzten Zeit seines Lebens stark zur Entwickelung gekommene Hocharistokratie seines Wesens wurden durch die Ausbrüche der elementaren Natur Wilhelmi’s empfindlich abgestoßen, und so erzählt sich die Legende, daß Beide sich geflissentlich auswichen, während die realistische Natur des Herzogs die Nähe des wunderlichsten seiner Unterthanen mit Vorliebe suchte.

Das Todesjahr Karl August’s (1828) war auch das Todesjahr Wilhelmi’s. Der letzten ihnen testamentarisch auferlegten Liebespflicht, „ihm einen Grabstein und zwar keinen lumpichten, sondern einen, der ihm und ihnen keine Schande macht, setzen zu lassen mit einer von ihm selbst verfertigten Grabschrift, die man versiegelt in seinem Pulte finden werde,“ sind, wie wir bereits andeuteten, seine Erben nachgekommen.

Nur an dem Stile der Grabschrift hat man wahrscheinlich mit Rücksicht auf Ort und Oeffentlichkeit gemodelt.

Wir wollen dagegen der Nachwelt das Original dieser Grabschrift nicht vorenthalten. Die im „Pulte“ vorgefundene versiegelte Grabschrift lautete folgendermaßen: „Ich Immanuel Christian Wilhelmi lebte voll von Zweifeln, aber nicht unordentlich; ich sterbe unschlüssig, aber nicht unvorbereitet. Unwissenheit und Irrthum sind Eigenschaften der menschlichen Natur. Ich vertraue auf einen Allmächtigen und Allgütigen Gott, erbarme Dich meiner; so habe ich über 79 Jahre gelebt, da heißt es, fahre hinunter in die unterirdische Erde und werde zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 840. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_840.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)