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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


der Stube sich rasiren ließ, der Wolfgang und das Cornelchen hinter dem Ofen und recitirten, wie gewohnt, um die Wette Stellen aus dem „Messias“. Diesmal mit vertheilten Rollen das wilde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, erst leise, dann, fortgerissen und alles Andere vergessend, immer lauter und leidenschaftlicher, bis endlich das junge Mädchen den Vers: „Oh, ich bin wie zermalmt“ – mit voller Kraft der Stimme herausschrie. Adramelech’s Verzweiflungsschrei wirkte so gewaltig auf den Barbier, daß er, im Begriffe, den Hausherrn einzuseifen, den ganzen Inhalt des Seifebeckens dem Herrn Johann Kaspar in den Brustlatz goß. Daraufhin großer Aufstand, geflügelte Untersuchung, Eingeständniß des verbotenen Klopstockapfelgenusses von Seiten der Delinquenten, summarische Procedur und schließlich der Wahrspruch: Fort aus dem Hause mit dem Hexameterzeug! Selbstverständlich war dieses väterliche Verdict gerade so nachhaltig wirksam, wie ähnliche väterliche Verdicte eben zu allen Zeiten zu sein pflegten und pflegen. …

Große und dauernde Wirkung übte auf den jungen Wolfgang die Bekanntschaft mit der Bibel, und vor allem sprach das Naive, Naturzuständliche der Patriarchengeschichten ein verwandtes Gefühl in dem Knaben ergreifend und fesselnd an. Die Bibel, Homer und Shakespeare sind die drei Jungbrunnen der Poesie gewesen, aus welchen unser Dichter die bedeutungsvollsten Inspirationen getrunken hat. Biblische, homerische und shakespearesche Elemente lassen sich in Goethe’s Dichtung deutlich nachweisen, aber nicht als etwas Entlehntes, Fremdartiges, Nachgeahmtes, sondern als in Fleisch und Blut Verwandeltes, zu goetheschem Ichor (Götterblut) Potenzirtes. Was seine biblischen Jugendstudien angeht, so hat er selber angedeutet, daß ihn die Dürre des trocken-moralischen Religionsunterrichts, den er in Knabenjahren ausstehen mußte, dazu getrieben habe. Das seellose, verknöcherte, officielle Lutherthum jener Zeit war auch ganz dazu angethan, gefühlvolle Gemüther für die Poesie des alten Testaments wie für pietistische Einflüsse empfänglich zu machen.

Der geregelte Verlauf von Wolfgang’s Erziehung und Unterricht hatte indessen eine unliebsame, dauernd nachtheilige Unterbrechung erfahren durch die Ereignisse, welche in Folge des siebenjährigen Krieges über die Reichsstadt Frankfurt hereingebrochen waren. Es ist bekannt, daß alles, was gesund und wissend in der deutschen Nation, für Friedrich von Preußen Partei nahm. So war auch Herr Johann Kaspar ein entschiedener Friedrichist und that alles, um den Wolfgang ebenfalls zu einem solchen zu machen. Wie schwer also mußte es dem Manne fallen, als die Franzosen, rechts- und vertragswidrig vorgehend, im Jahre 1759 die Reichsstadt Frankfurt überfielen und besetzten, ihm selber die Widerwärtigkeit bleibender Einquartierung aufhalsend! Es besserte in seinen Augen die Sache wenig, daß die Einquartierung aus einem höheren, feingebildeten Officier bestand, dem sogenannten „Königslieutenant“, Grafen Thorane, welcher seine Anwesenheit so wenig unangenehm als möglich zu machen suchte. Die Stimmung des Hausherrn war so gedrückt und zerfahren, daß er für eine geraume Weile sogar seine pädagogische Mühewaltung nur obenhin fortsetzte oder auch wohl ganz ruhen ließ. Der fortwährend handgreiflich sich aufdrängende Gedanke, die Feinde seines hochverehrten großen Fritz in seinem Hause beherbergen und bewirthen zu müssen, scheint den sonst so besonnenen Herrn völlig aus seiner gewohnten Fassung und Haltung gebracht zu haben. Als der Angriff, welchen Prinz Ferdinand von Braunschweig bei Bergen unweit Frankfurt auf die französischen Stellungen an der Mainlinie machte, mißlungen war, brach Goethe’s Vater dem Königslieutenant in’s Angesicht in die Worte aus: „Ich wollte, sie hätten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich hätte mitfahren müssen!“ und brachte dadurch den Franzosen so in Wuth, daß nur mit Mühe eine Katastrophe abgewendet wurde. Viel leichter und lieber als der Vater schickte sich der Sohn in die Franzoserei, welche etliche Jahre in Frankfurt obenauf war. Wolfgang hatte das Nachlassen der Zügel väterlicher Pädagogik kaum verspürt, als er von der neuen Freiheit ausgiebigen Gebrauch zu machen begann. Er verkehrte viel mit den Franzosen, besuchte das Theater, welches sie sofort in Frankfurt eingerichtet hatten, gerieth auch hinter die Coulissen und erlebte allerhand kleine Abenteuer, welche er nachmals in seinen Denkwürdigkeiten behaglich-dichterisch ausgemalt hat. Das Thatsächliche davon klar zu stellen, dürfte unmöglich sein. Sicher jedoch ist, daß in dem allgemeinen Trubel jener Frankfurter Franzosenzeit der Junge sich als angehendes Herrchen zu fühlen und zu gehaben begann. Er selbst hat uns in seinem Märchen „Der neue Paris“ beschrieben, wie das angehende Herrchen äußerlich sich darstellte: in Schuhen von sauberem Leder mit großen silbernen Schnallen, feinen baumwollenen Strümpfen, schwarzen Beinkleidern von Sarsche, einer aus des Vaters Bräutigamsweste geschnittenen Weste aus Goldstoff und einem Rock von grünem Berkan mit goldenen Balletten, das Haar gepudert und an den Schläfen in weitabstehende Lockenflügelchen frisirt, im Nacken ein Haarbeutelchen, unter dem Arme ein Dreimasterchen, an der Seite ein Degelchen, dessen Bügel mit einer großen Seidenschleife geschmückt war.

So angethan, im vollen Glanz und Wichs des Rococo, ging unser halbwüchsiger Stutzer auf Eroberungen aus. Ja, auf Eroberungen. Denn wie vordem Boccaccio, so konnte auch Goethe von sich sagen, er habe von Kindesbeinen auf in der Knechtschaft Amors („in servigio d’Amore“) gestanden. Es war nun schon so, und wir müssen die Sache nehmen, wie sie war. Ein Dichter, und vollends ein großer, ein größter Dichter will, was sein Verhalten zum schöneren und besseren Geschlechte betrifft, ganz entschieden anders angesehen und beurtheilt sein, als irgend ein beliebiger Prosaicus Ordinarius Lederherz. Der Ueberschwang von Phantasie und Gefühl, welcher den Dichter macht, zwingt ihn, zu lieben, ohne Aufhören zu lieben, so daß fürwahr das Wort des Paulus an die Corinther: „Die Liebe höret nimmer auf“ wie eigens für dichterisch angelegte Naturen gesprochen erscheint. Dieselbe Macht der Liebe, welche schon in dem Knaben Goethe gebieterisch sich regte, hat sich auch in dem Greise Goethe nicht minder gebieterisch geregt. Und es mußte so sein; denn Wolfgang der Große hat ja bis zuletzt gedichtet, und so lange ein Mensch dichten muß, muß er auch lieben. Mit der Liebe lebt im jungen Dichter die Poesie auf, mit der Liebe stirbt sie im alten. Liebe und Poesie sind ja nur zwei geschwisterliche Flammenstrahlen, welche aus einer und derselben Gluth emporsteigen, aus jenem Feuerfluidum der Seele, aus welchem alles kommt, was himmlisch ist in dem armen Erdenkloß Mensch.

Wie hieß nun aber, wer war das weibliche Wesen, welches das frühwache Herz unseres Dichters zuerst knabenhaft leidenschaftlich pulsiren machte? Es läßt sich nicht mit auch nur einiger Bestimmtheit sagen. War es eine blos mit dem Anfangsbuchstaben W. angedeutete Unbekannte? War es die schöne Charitas Meixner aus Worms? War es das „unglaublich schöne“ Gretchen in der „Rose“ zu Offenbach? Aber dieses Offenbacher Gretchen muß jetzt entschieden für eine Mythe gelten, obzwar Bettina hoch und heilig versichert, von der Frau Aja „wohl zwanzig Mal“ gehört zu haben, dieses Gretchen „sei die Erste gewesen, welche der Wolfgang lieb hatte“. In Frankfurt geht die bestimmte Sage, das wirkliche, das echte Gretchen, welches schwesterlich besorgt den heftig in sie verliebten Knaben vor den Machenschaften der lockeren Gesellen warnte, in deren Gesellschaft er zu dieser Zeit gerathen war, sei Kellnerin in der Wirthschaft „Zum Puppenschänkelchen“ in der Weißadlergasse gewesen. Wer und was jedoch immer Gretchen war, das Mädchen kann kein bloßes Phantom, es muß Wirklichkeit gewesen sein. Allerdings war es unter den Poeten der Klopstock’schen Schule Mode, für „die unbekannte Geliebte“ zu schwärmen; aber vor solcher Abstraction und Verhimmelei war Goethe schon in jungen Jahren durch den kräftig realistischen Zug seines Genius gesichert. Es muß ein Gretchen wirklich gegeben haben; denn kein Phantom vermag einen so tiefen und dauernden Eindruck hervorzubringen, wie unser Dichter ihn von seiner Gretchenliebe empfing. Das Gretchen freilich, welches Goethe in seinen alten Tagen im fünften Buche von „Dichtung und Wahrheit“ zum Mittelpunkte eines reizenden episodischen Gemäldes aus seiner Jugend gemacht hat, ist wohl nur für eine dichterische Caprice anzusehen. Aber die Züge des echten und wirklichen Gretchens hat er aus frisch lebendiger Erinnerung heraufgeholt und für die Ewigkeit nachgeschaffen in der Gestalt des Faust-Gretchens. Tifteler meinen zwar, Goethe habe in dieser einzig schönen Figur das Ideal deutscher Mädchenhaftigkeit a priori construiren wollen und wirklich construirt; allein das ist nur eine jener sogenannten ästhetischen Flausen, deren die Herren Goethe-Commentatoren nicht wenige aufgebracht haben. Das Gretchen im Faust ist vom

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_082.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)