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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Publicum ließ es sich gefallen, applaudirte wie rasend und war sehr erbaut davon. –

Einer unserer renommirtesten Charakterdarsteller gastirte in der Rolle des Franz von Moor. Nach Schiller’s Vorschrift sitzt oder steht Franz in der bekannten Scene neben seinem Vater, mit welchem er in tiefer Unterhaltung begriffen ist. Daß eine Unterhaltung vorhergegangen sein muß, geht aus den Anfangsworten hervor: „Aber ist Euch auch wohl, mein Vater?“ etc. Franz muß also schon, ehe der Vorhang sich hebt, eingetreten sein und seinem Vater mitgetheilt haben, daß er eine „Zeitung“ für ihn habe. Was that der renommirte Gast? – Da er möglicher Weise um den Empfangsapplaus kommen konnte, wenn er beim Emporfliegen der Gardine schon auf der Bühne stand, so ignorirte er Schiller, der ein Auftreten des Franz nach geöffneter Scene nicht vorgeschrieben hat, weil es nach den einleitenden Worten unlogisch sein muß, ließ den Vorhang aufziehen, den alten Moor während einer langen Pause still in seinem Stuhle sitzen wie einen Greis, der sich nicht zu helfen weiß, und erst nach dieser sonderbaren, ungerechtfertigten Pause trat der große Mime auf und wurde natürlich donnernd empfangen. Dies geschah in einer großen Universitätsstadt, und der Darsteller selbst war honoris causa von einer süddeutschen Universität zum Dr. philosophiae gemacht worden. Das Publicum hatte kein Verständniß für diese Sünde, die nur des rohen Effects wegen begangen wurde.

Ein ebenfalls bedeutender, jetzt verstorbener Heldendarsteller gastirte als Tell. Die Scene mit dem Fischer (4. Act, 1. Scene) schließt folgendermaßen:

 Tell.

Ist es gethan, wird’s auch zur Rede kommen. (Ab.)

 Fischer.

Zeig’ ihm den Weg, Jenni – Gott steh’ ihm bei!

Er führt’s zum Ziel, was er auch unternommen. (Geht ab.) Den Fischer spielte ein braver Schauspieler, der dem Gaste sicherlich nichts verdorben hätte. Aber die zwei Zeilen des Fischers mußten dem Rothstifte des Regisseurs zum Opfer fallen, der Schiller’sche Vers mußte zerrissen werden. Warum? Damit der gefeierte Gast Herr des letzten Wortes vor dem Sinken der Verwandlungsgardine sei und somit sicherer auf einen Applaus oder Hervorruf rechnen könne. Dies wurde sogar seinerseits mit naivem Cynismus zugestanden. – Der gastirende Künstler war Mitglied eines großen Hoftheaters.

„Neu um jeden Preis!“ Dieser Devise sind die Besten zum Opfer gefallen. Unser weitaus bedeutendster Charakterdarsteller der Neuzeit gehörte ebenfalls zu diesen Opfern. Er spielte den Perin in Moreto’s „Donna Diana“. Man wird beim besten Willen in der Rolle nichts Anderes finden können, als den ehrgeizigen, scharfblickenden, behenden und humoristischen Grazioso der spanischen Komödie, den feinen Leiter der Intrigue, die bewegende Ursache des Stückes, den weltklugen und hofmännischen Philosophen, der alle übrigen Personen des Lustspiels in geistiger Beziehung überragt. Es ist absolut nichts Anderes aus dem Perin herauszuklügeln. Und doch geschah es von dem großen Charakteristiker. Er wollte neu sein in dieser Rolle. Er wollte etwas geben, was vor ihm noch Keiner gab. So sah man denn seinen Perin einige Male versuchsweise als tölpischen, habsüchtigen, rauhen Diener und im Costüme eines baskischen Bauern. Erträglich war das höchstens in der Scene, wo Perin der Donna Diana gegenüber den bärbeißigen Weiberfeind heuchelt, sonst war es einfach unerträglich; denn wie kam dieser Perin überhaupt zu einer so bevorzugten Stellung an einem Hofe? Wo blieb der feine Grazioso Moreto’s? Wo blieb das Stück? Aber der Darsteller war neu und das Publicum war entzückt.

Es ist gewißlich wahr, daß die gelehrten Commentatoren und Interpreten eines Shakespeare, Goethe, Schiller und Anderer diesen Dichtern in Bezug auf die von ihnen geschaffenen Charaktere Absichten untergelegt haben, die jenen Geistesheroen sicherlich fern lagen. Man kann sehr für Gründlichkeit sein und doch auch hier das Zuviel verdammen.

So geht es mit dem Shylock Shakespeare’s. Ganz aus seiner Zeit heraus kann auch der größte Dichter nicht, denn wir sind schließlich alle Menschen. Kannten die Zeiten eines Shakespeare schon jene Humanität dem Judenthume gegenüber, die erst in unseren Tagen zur Wahrheit geworden ist? Nein, und Shakespeare wird darum sicher nicht daran gedacht haben, im Shylock einen Heros hinzustellen, der mit der That, die er zu begehen vorhat, die jahrhundertelange Unterdrückung seines Volkes rächen will. Aus dem Shylock einen Heros machen, heißt dem Stücke Gewalt anthun, denn der schließliche Urtheilsspruch, den Shakespeare seinem Publicum zumuthen konnte und der eine Parodie auf Alles, was Recht heißt, ist, beweist zur Genüge, daß er selbst und sein Publicum nichts Anderes im Shylock gesehen haben als den verdientermaßen tüchtig geprellten alten jüdischen Wucherer. Diesen Standpunkt – mindestens ein sehr entsprechender für die Zeit, in der das Stück entstand – hielt auch Heinrich Marr in Hamburg fest, als er für die Thaliabühne, die ja nur Lustspiele geben durfte, vom Hamburger Senate die Freigebung des „Kaufmann von Venedig“ verlangte, da dieses Stück aus den und den Gründen entschieden ein Lustspiel sei. Wo finden wir aber heute diese Auffassung des Shylock? – Seydelmann soll ihn noch so gespielt haben. Eine falsch angebrachte Humanität hat heutzutage die Rolle gewaltig veredelt. Aber wie sonderbar! – Shylock ist also ein Held, der sein Volk an einem der vielen Unterdrücker rächt, und fast Alle, die ihn so spielen, vergessen beileibe nicht das alte Traditionsmätzchen des Messerwetzens und des Probirens der Schneide am Haar. Darf der Blutdurst eines Helden in so raffinirt gemeiner Weise zum Ausdruck gelangen?

Dabei fällt mir ein, daß ein wandernder Tragöde der Neuzeit den Shakepeare’schen „Kaufmann von Venedig“ recht praktisch eingerichtet hat. Da er nämlich als Shylock im vierten Acte fertig ist und voraussetzt, daß das Publicum dem fünften Acte nunmehr kein Interesse entgegenbringt, so hat er diesen fünften Act bis auf ein Minimum zusammengestrichen und als Verwandlung der Gerichtsscene angehängt. Diese Verwandlung geht sehr schnell vorüber, und das Publicum hat dadurch Gelegenheit, sich zu erinnern, daß der Gast zum Schlusse noch einige Male gerufen werden muß.

Eine Rolle, die wegen ihrer drastischen Wirksamkeit noch sehr häufig auf dem Repertoire gastirender Künstler des charakterkomischen Faches steht, ist der Candidat Elias Krumm in dem Kotzebue’schen Lustspiele: „Der gerade Weg ist der beste“. Für den, der das Stück nicht kennt, sei der wesentliche Inhalt kurz angedeutet. Ein alter Major von Murten, ein Haudegen vom reinsten Wasser, derb und soldatisch gerade, hat eine Pfarre zu vergeben, zu welcher sich zwei Bewerber gemeldet haben. Der eine, Namens Wahl, der die Freiheitskriege mitgemacht hat, ist der Repräsentant des geraden Weges, der auch schließlich zum Ziele führt, und der zweite Candidat, der obengenannte Elias Krumm, geht als echter Mucker mit Vorliebe die Wege, die „hinten ’rum“ führen. In dieser Partie, die an und für sich schon höchst drastisch gezeichnet ist, gastiren vorzugsweise zwei unserer bedeutendsten Charakterdarsteller. Aber mit welcher Unzahl van motivirten Nüancen und gar nicht zu motivirenden Mätzchen haben sie diese Rolle ausgestattet! Dieser Elias Krumm ihrer Auffassung ist ein hohes Lied auf den Hanswurst, und Gottsched könnte, wenn er noch unter den Lebenden wandelte, sich dreist die Mühe noch einmal nehmen, den Harlekin von der Bühne zu vertreiben. Es liegt doch so nahe, daß der biedere, soldatisch rauhe Major von Murten einen solchen Candidaten der Theologie nicht fünf Minuten in seinem Zimmer dulden würde. Der gerade Kriegsmann muß sich aber – aller Logik hohnsprechend – sogar dazu hergeben, die Mätzchen, die theilweise auf seine Kosten gemacht werden, zu unterstützen.

Bisjetzt sprach ich nur von sogenannten Größen, die sich, als dem Virtuosenthum angehörig, auch mehr oder weniger der Mätzchenmacherei in die Arme geworfen haben. Das Unwesen gewinnt aber auch höchst betrübenden Umfang in jenen künstlerischen Kreisen, die ihre Ehre darin suchen, im festen Engagement gute Repertoireschauspieler zu sein. Namentlich unter den Charakterspielern und Komikern verbreitet sich das Uebel der Mätzchenmacherei mehr und mehr. Die Letzteren sind, leider Gottes, in den letzten fünfundzwanzig Jahren dahin gebracht worden, den Schwerpunkt ihrer Kunst im Couplet zu suchen. Das rächt sich sichtlich bitter. Mit sehr wenigen Ausnahmen bringen die Komiker immer und immer wieder ihre Individualität, und man wird nicht mehr Viele dieses Faches finden, die einen Valentin im „Verschwender“, einen Rappelkopf in „Alpenkönig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_422.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)