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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Zum Jubeljahr der Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig.
Zugleich ein Blick auf das deutsche Lebensversicherungswesen.


memento mori

In unseren Tagen hat sich zu der Wichtigkeit, Werthmesser der Bildung, des Wohlstandes und der sittlichen Kraft eines Volkes zu sein, neben einer Reihe anderer Culturfactoren auch das Versicherungswesen und insbesondere das Institut der Lebensversicherung emporgeschwungen. Für diese volkswirthschaftliche Bedeutung derselben in allen Culturstaaten spricht nicht nur die ungeheure Capitalsumme, welche von dem allgemeinen Vermögen in ihrer Hand liegt, sondern ebenso die Thatsache, daß ihre Quecksilbersäule für alle Störungen und Förderungen im Erwerbsleben der Nation die feinste Empfindlichkeit zeigt, ja, daß sie selbst die dem Blick der Oeffentlichkeit nicht preisgegebene Noth ebenso mit deutlichen Zahlen verräth, wie sie die Grade des steigenden Vertrauens in den Industriekreisen mit untrüglicher Gewißheit mißt.

Dennoch würden wir auf der culturellen Stufenleiter der Nationen gerade unser Deutschland zu tief stellen, wenn wir der Lebensversicherungs-Statistik, also einfachen Zahlen-Vergleichen, die Schätzung unseres dermaligen Werthes im Weltverkehr überlassen wollten. Hier muß die politische Geschichte dem Werthmesser zu Hülfe kommen, um eine Differenz der auftretenden Ziffern zu erklären, welche ohne eine solche Erklärung für uns beschämend sein müßte, während sie in der That das Gegentheil ist.

Halten wir uns nämlich das Gesammtbild des Lebensversicherungsstandes der größten Culturstaaten am Ende des Jahres 1879 nach den Gesellschaften, deren Beobachtung möglich war, in einer Zahlenreihe vor Augen, so steht vor uns:

Staaten Gesell-
  schaften  
  Versicherte     Versicherungs-Capital   Durchschnitts-
  Summe für eine  
Versicherung
England 108   1,044,025   8,300,000,000 ℳ.   7950 ℳ.
Nord-Amerika, Ge-
  sellschaften, welche  
  im Staate New-York
  zugelassen sind
31   595,486   5,759,844,660 „    9673 „ 
Deutsches Reich 39   596,979   2,031,962,634 „    3425 „ 
Frankreich 16   193,673   1,564,045,600 „    8076 „ 
Deutsch-Oesterreich
  mit der deutschen
  Schweiz
14   209,771   507,282,532 „    2418 „ 
Zusammen   208   2,639,934   18,163,035,426 ℳ.   6880 ℳ.


Auf den ersten Blick ergiebt sich der sprunghaft tiefe Abstand zwischen der englischen und nordamerikanischen Lebensversicherungs-Höhe und der um Tausende von Millionen geringeren Deutschlands. Stehen wir wirklich an Bildung, sittlicher Kraft und Wohlstand so weit unter jenen Staaten, wie dieses Zahlenverhältniß andeutet? An ersteren gewiß nicht, an dem letzteren allerdings – und das ist, unsere Vergangenheit im Auge, nicht im Geringsten zu verwundern. – Während von jenen beiden Staaten die nordamerikanische Union auf jungfräulichem Boden aufblüht, gerade aus Deutschland die thatkräftigsten Arme und mit ihnen zugleich Millionen unseres Vermögens an sich zieht, frei von übermächtigen Nachbarn und deshalb von jedem Militärdruck, nur dem Erwerbe leben kann und durch die Politik ihrer Regierung jeden Handels- und Erwerbsvortheil nach außen sorgfältig gewahrt sieht, – und während England, durch den Wallgraben des Meeres vor jedem fremden Feind auf eigenem Boden sicher, seit Jahrhunderten ungefährdet an seinem Wohlstand baut, und seine stets nur nationaldenkende Staatsleitung den eigenen Vortheil in allen Theilen der Erde wie daheim rücksichtslos sucht und mächtig beschützt, – war von alledem bei uns das Gegentheil der Fall.

Im Herzen Europas nach allen Seiten offen daliegend und von eroberungslustigen Feinden rings umgeben, ist Deutschland seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges fast zweihundert Jahre lang das Schlachtfeld für alle europäischen Kriege gewesen. Der Westfälische Friede, nach welchem weite Länderstrecken das Bild von „Deutschland im Elend“ darboten – das ich von einem kleinen Theil desselben den Lesern der „Gartenlaube“ (1865) gemalt – legte das aus tausend Wunden blutende „Deutsche Reich“ auf das Krankenbett, auf welchem es von einer Ohnmacht in die andere fiel, bis Napoleon der Erste es gar todt schlug. Kein oberster Gedanke hielt das Volk aufrecht, keine höchste Macht verbunden. Zertheilt an eine Menge Souverainetäten von allen Größen, von lächerlich kleinen bis zu großmachtähnlichen, die, vor Allem auf die Wahrung der Würde ihrer Eigenherrlichkeit bedacht, sich gegenseitig anfeindeten und zu beschränken suchten, mußte es selbst nach und nach im Denken und Wollen schwächer, sein Gesichtskreis ein immer engerer werden; es mußte, den Verhältnissen, die es einengten, angemessen, sich an Kleines und Kleinliches gewöhnen.

Wagte sich ein kühner Geist mit einem großen Unternehmen über diese Miniatur-Vaterlands-Grenzen hinaus, so stieß er überall an chinesische Mauern; das war ja noch in unseren Vierziger Jahren möglich, wie man ebenfalls in der „Gartenlaube“ (1857: „Ein Pionnier des Geistes“, S. 633[WS 1]) nachlesen kann. – Nationale Politik gab es für ein deutsches Volk nicht mehr, und wenn einzelne Fürsten besonders dadurch vor den anderen hervorragten, daß sie, zur Befestigung und Ausbreitung ihrer Macht, an etwas Besseres, als den französischen Hofprunk, dachten, so war es doch auch ihnen nicht unmöglich, die von den „Unterthanen“ mühevoll aufgefundenen auswärtigen Erwerbswege aus politischen oder rein dynastischen Rücksichten nach Belieben wieder zu versperren. Dazu Krieg auf Krieg, bald da, bald dort, und nach jeder Zerstörung, Plünderung und Verarmung von Tausenden wieder die einzige Sorge, neu zu bauen, neu zu erwerben, immer wieder von vorne anzufangen. Der Glaube an öffentliche Sicherheit und Beständigkeit der gesetzlichen Regelung unserer volkswirthschaftlichen Verhältnisse war so dahin, daß viele Gemeinden es als ein Unglück bejammerten, wenn eine Chaussee ihr Dorf berühren sollte, weil sie die sonst dem Handelsverkehr vornehmlich dienenden Heerstraßen nur als Verheerungsstraßen kennen gelernt hatten. Woher sollte bei einem so darniedergedrückten Volke das Vertrauen kommen, ohne welches keine große Unternehmung möglich ist?

Wenn wir das deutsche Volk in diesem Zustande bis zu den Befreiungskriegen und in manchen Gegenden noch weit darüber hinaus – uns vor Augen halten und nun neben die Lebensversicherungssummen Englands und Nordamerikas die von Deutschland stellen, so wird uns nicht Beschämung, sondern ein gerechter Stolz erfüllen über die sittliche Kraft und Bildung, die trotz des so oft ruinirten Wohlstandes allein eine solche Höhe möglich machten.

Je schwerer aber die Arbeit war, die zur Erringung solcher Ziele bewältigt werden mußte, um so mehr sind wir zu dankbarer


  1. Vorlage: S. 653
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_014.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)