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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Generationen, welche doch eben weiter lernen sollten, auf dem Standpunkte „der Väter“, erwachsene Männer und Frauen in den Kinderschuhe festzuhalten. Dazu kommen die niederen Mächte im Menschen, Eigennutz und Sinnlichkeit, Feigheit und Furcht, der Hierarchie entgegen, um ihre Herrschaft über die Gemüther zu befestigen Man sagt den Menschen in ihrer Jugend, in der das Gemüth noch weich und empfänglich für den Schrecken ist, der Gott, der ihre zeitliche und ewige Wohlfahrt in der Hand habe, verlange von ihnen, daß sie ihre Vernunft und ihr Gewissen der kirchlichen Satzung unterwerfen. In der Angst ihres Herzens sind dann unter Hundert auch Neunundneunzig bereit, das vernünftige Denken für eine Sünde, den Zweifel für eine größere Sünde und den offenen Widerspruch gegen die clericale Satzung sogar für eine Todsünde zu halten. Man hat den Menschen zu einer Zeit, wo ihre sittlichen Begriffe noch unentwickelt waren, gesagt, daß der Gott, den sie als den Inbegriff der höchsten Vollkommenheit ansehen, grausam, rachgierig sei und in „unerforschlichem Rathschlusse“ den Fluch auf alles Natürliche, auf die Erde und die ganze Welt gelegt habe. Um Gottes willen glauben sie deshalb auch verfluchen und verdammen zu müssen. An der Erde und ihren Freuden gehen sie vorüber mit verschlossenen Augen. Arbeit ist ihnen eine Strafe für die Sünde. Wo soll da ein kräftiges, gesundes, ein freies Geschlecht herkommen?!

Das ist das Unheimliche an der kirchlichen Reaction, daß sie nicht nur wie andere reactionäre Strömungen den äußeren Wohlstand berührt, sondern auch das geistige Leben der Nation in’s innerste Herz trifft. Sie schlägt Wunden, an denen Mancher sich verblutet. Sie schafft kranke, gebrochene geistige Existenzen – Wahrlich, ernst genug ist der Kampf, in dem wir stehen, um der Frage, wie diesen Gebahren vorgebeugt werden kann, volles Gewicht zu verleihen.

Die Erfahrung hat bedeutsame Winke darüber gegeben, wie die Frage gelöst werden muß.

Ein erfolgreicher Kampf gegen die kirchliche Reaction – das lehrt die Geschichte aller Zeiten – hat sich vor allen Dingen mit der Hierarchie aus einander zu setzen. Treffend sagt hierüber der geistvolle und gelehrte Verfasser der „Geschichte des Materialismus“, Alb. Lange: „Man verbreite die Wissenschaft; man rufe die Wahrheit auf allen Gassen und in allen Sprachen und lasse daraus werden, was daraus wird! Den Kampf der Befreiung aber, den absichtlichen und unversöhnlichen Kampf richte man gegen die Punkte, wo die Bedrohung der Freiheit, die Hemmung der Wahrheit und Gerechtigkeit ihre Wurzeln hat: gegen die weltlichen und bürgerlichen Einrichtungen, durch welche die Kirchengesellschaften einen depravirenden Einfluß erlangen, und gegen die unterjochende Gewalt einer perfiden, die Freiheit der Völker systematisch untergrabenden Hierarchie. Werden diese Einrichtungen beseitigt, wird der Terrorismus der Hierarchie gebrochen, so können die extremsten Meinungen sich neben einander bewegen, ohne daß fanatische Uebergriffe entstehen und ohne daß der stetige Fortschritt der Einsicht gehemmt wird. Es ist wahr, daß dieser Fortschritt die abergläubische Furcht zerstören wird. Fällt die Religion mit dieser abergläubischer Furcht dahin, so mag sie fallen; fällt sie nicht, so hat ihr idealer Inhalt sich bewährt, und er mag dann auch ferner in dieser Form bewahrt bleiben, bis die Zeit ein Neues schafft!“

Daneben giebt uns die Geschichte die weitere unzweideutige Lehre, daß ein Sieg über die kirchliche Reaction nur zu erhoffen ist unter voller Anerkennung des religiösen Gefühls und seiner Bedürfnisse. Es giebt Fanatiker der Aufklärung, unter deren Füßen die zarten sinnigen Blüthen des frommen Gemüths zertreten werden. Es giebt eine nüchterne Prosa, einen sich abhetzenden Industrialismus, der für die Welt der Ideale keinen Raum mehr hat. Das Volk aber verlangt nach ewigen Ideen; es verlangt sein Leben anzuknüpfen an ein Unbedingtes, und es hat ein unveräußerliches Menschenrecht auf Befriedigung dieses Verlangens. Kann es diese Ideen nicht in ihrer ganzen Reinheit und Unendlichkeit erhalten, so nimmt es dieselben, in welcher Gestalt sie ihm nur geboten werden. Und wenn es dafür den Preis seiner Vernunft und seines Gewissens zahlen soll, es zahlt ihn schließlich selbst auf die bloße Möglichkeit hin, daß es dafür eine Stunde der Erhebung über den Staub der Alltäglichkeit eintauscht.

Hat das Volk nur die Wahl zwischen einer Kirche, die den Geist kasteit, die ihm das Joch vernunftwidriger Dogmen auferlegt, und einer Welt ohne Religion, ohne ein Unbedingtes und Ewiges, so wird es in seiner Wahl, wenigstens im Großen und Ganzen, nicht schwanken, auch wenn die Dogmen der Kirche noch hundertmal vernunftwidriger wären. Religiöse Verirrungen lassen sich nur auf demselben Boden bekämpfen, auf dem sie entstanden sind. Mit wissenschaftlichen Beweisen wird man den „Gläubigen“ ihre vermeintliche Glaubenswahrheiten nicht wegdiscutiren.

Religiöse Befreiung kann nur durch Religion selber geschehen. Was sucht der Mensch in der Religion? Die Erhebung über das Wirkliche, den Frieden in allem Streit. Diese Erhebung, dieser Friede ist aber unabhängig von den Dingen, welche die Orthodoxie als Bedingung dafür aufstellt, und wird vollkommener und reiner durch eine freie, dem ganzen geistigen Sein des Menschen entsprechende religiöse Entwickelung gewonnen. Wohl fällt auf dem Standpunkte geistiger Reife jene primitive Einheit des Ideals und der sinnliche Anschauung fort. Der Mensch wird sich bewußt, daß alles Vergängliche nur ein Gleichniß ist, daß auch die Begriffe, die wir uns von dem Ewigen machen, nur unzulängliche Bilder des Unaussprechliche sind. Aber die Einheit, die für die Anschauung und die Vorstellung zerstört wird, wird für das Gemüth und den Willen bestehen bleiben. Das entwickeltere Bewußtsein wird die ewigen Ideen, die den wahren Gehalt der Religion ausmachen nicht mehr in irgend einem Dogma oder einer kirchlichen Institution zu besitzen wähnen, sondern dieselben vielmehr im Leben zu verwirklichen suchen. Die Einsicht in den unendlichen Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und dem Ideal wird ihn gerade anspornen, diesen Widerspruch durch fortschreitende sittliche Arbeit an sich selber und an Andere immer mehr zu überwinden.

Man macht in der Theologie den Unterschied zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion. Man sollte ihn besser machen zwischen natürlicher und künstlicher Religion. „Die natürliche Entwickelung der Religion in ihren verschiedenen Formen,“ sagt Theodor Parcker, der edle und freisinnige amerikanische Prediger, „ist eine der schönsten Erscheinungen in der Welt; das sieht man an dem blos persönlichen Maßstabe eines Menschen; das erkennt man an dem nationalen Maßstabe eines großen Volkes. Aber ach! Die Menschen pfuschen nur zu gern der Natur in’s Handwerk. Sie begnügen sich nicht, einfach zu entwickeln, zu vervollständigen und zu vervollkommnen, was von selbst begann, sondern sie ändern nach individuellen Einfällen, sodaß die allgemeine, ewige und unabänderliche Grundkraft die Form ihrer persönlichen, zeitweiligen und wechselnden Launen annehmen soll.“

Ohne Zweifel haben gerade die Freisinnigen und Gebildeten gegenwärtig noch eine große Schuld unserem Volke gegenüber abzutragen. Wenn die Menschen eine natürliche und freie Befriedigung ihres religiösen Bedürfnisses nicht finden können, kommen sie schließlich aus reiner Verzweiflung dahin sich der Reaction und der Bigotterie aus Gnade oder Ungnade zu ergeben. Es ist eine seltsame Erscheinung in der Gegenwart, daß Männer, welche im Vordertreffen für die Freiheit und Selbstständigkeit des Geistes kämpfe, welche mit Aufopferung und Selbstverleugnung an der Veredlung der Menschheit arbeiten, welche also diese praktische, natürliche Frömmigkeit in vollem Maße besitzen, daß diese Männer allen kirchlichen Arbeiten „kühl bis an’s Herz hinan“ gegenüber stehen. Sie geben vor, über die Religion hinaus zu sein, und haben doch so viel Religion, so viel Glauben an die Macht des Guten, an den Sieg der Gerechtigkeit und Wahrheit, an die Existenz einer unbedingten sittlichen Norm.

Die kirchliche Orthodoxie dagegen, die ihren Glauben so laut in die Welt hinausposaunt, ist durch und durch materialisirt. Sie hat viel politische Kargheit und Berechnung, aber herzlich wenig Idealismus. Sie baut auf materielle Dinge, auf das Kirchenvermögen, auf Staatshülfe und äußere Macht, aber herzlich wenig auf die Kraft des Geistes.

Das ist ein auf die Dauer unerträglicher und unhaltbarer Zustand. Außerhalb der Kirche könnte das Volk manch hohen idealen Sinn finden, aber es sucht ihn dort nicht, weil jene Männer mit Worten und Begriffen das nur zu oft verneinen, wovon ihr Leben doch so lautes Zeugniß giebt. Bei dem officiellen Kirchenthume dagegen sucht das Volk sein Ideal, aber es findet dasselbe nicht, sondern allzu oft nur todten Dogmatismus und starre Buchstaben. Dabei werden die Wenigen, die in der Kirche für eine

freiere und idealere Auffassung der Religion eintreten, allmählich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_330.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)