Seite:Die Gartenlaube (1881) 562.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

er reist bei dem Landadel umher, um von demselben „todte Seelen“ zu kaufen. Die Ernte ist ergiebig; denn viele, für die, obgleich sie todt sind, noch Steuern gezahlt werden, notirt er als käuflich erworben in sein Taschenbuch, läßt sie auf das werthloseste seiner Grundstücke überschreiben und verpfändet letzteres bei der Bank.

Dies ist das Thema der wunderbaren Dichtung, über deren Blätter das Blut eines Patrioten rinnt, indessen zwischen den Zeilen mit anscheinend lachendem Zurufe die blanke Revolution gepredigt wird. Gestorben für sich, für den Staat aber auch nach dem Tode noch ein Steuerobject und zwar ein von einem Schwindler gemißbrauchtes Steuerobject – das ist nach Gogol eine „todte Seele“. Das ganze russische Volk ist erstarrt, todt, unbeweglich; das ganze russische Volk ist ein gemißbrauchtes Steuerobject, das ganze russische Volk eine einzige „todte Seele“. Der Poet erfaßt nur den allgemein gültigen Typus und leiht ihm Dauer in der dichterischen Nachbildung. Das ist die furchtbare Macht des dichterischen Genies, welches gewaltiger ist als der Czar sammt allen seinen Garden und allen seinen Kosaken. Das Mißvergnügen, das Jahrzehnte sich scheu verbarg, braucht oft nur ein Wort, einen Namen um jählings aufzuflackern und dann, trotz aller Löschversuche, fortzuglimmen. Gogol fand dieses Wort; es war das Wort von der „todten Seele“.

Man würde aber ein Unrecht begehen, wenn man es an diesen allgemeinen Andeutungen über den denkwürdigen Roman Gogol’s genügen ließe. Er gehört nicht nur als der erste Plan und Grundriß der nihilistischen Bewegung der Geschichte an, sondern ist auch ein kostbares Besitztum der erzählenden Kunst, die hier vielleicht, von Walter Scott’s Romanen abgesehen, in der culturhistorischen Kleinmalerei ihre größten Triumphe gefeiert hat. Derb sind die Farben; robust ist die Pinselführung, wie es von dem Kleinrussen nicht anders erwartet werden kann. Aber die Wahrheit liegt über diesen Bildern mit verklärendem Zauber. Und diese Wahrheit thut sich insbesondere auch darin kund, daß nicht blos das Beamtenthum, der Gouverneur, der Procurator, der Polizeimeister, der Branntweinpächter und der Inspector der Kornfabriken, nein, daß auch alle Schichten des verkommenen Provinzialadels von dem Dichter unter die Geißel genommen werden. Es ist ein Werk von großartiger poetischer Gerechtigkeit. Nicht in jenem Sinne zwar, daß jedweder Schuld eine Sühne folgen muß, jedoch in dem anderen, daß das gleiche Maß an Alle gelegt wird, auch an diejenigen, welche der Dichter liebt. Hätte Gogol lediglich das Beamtenthum dem Spotte preisgegeben, so hätte man ihn zweifellos einen Pamphletisten heißen dürfen. Aber das Elend fällt nicht allein, wenn auch vorwiegend, dem Beamtenthum zur Last, welches in seiner trostlosen Verworfenheit eben nur vorhanden sein kann, wo solche Volkselemente ihm gegenüberstehen. Und der Humorist thut dann das Seinige; er geißelt auch diese Volkselemente, wenngleich ihm dabei das Herz vor Weh zu springen droht.

Wie mannigfaltig sind in den „Todten Seelen“ die Figuren, an denen der Fluch ihrer eigenen Gringfügigkeit nagt! Der Gutsbesitzer Manilow, der jener Gattung von Leuten angehört, „die zu gar keiner Gattung gehören“ – die Bäuerin Anastasia Petrowna, welche nichts kann und nichts will, als Silberrubel zusammenthun – der Bonvivant Rosdrew, der auf die Märkte fährt, mit aller Welt Duzbrüderschaft schließt, sein Geld verspielt und schließlich die auf sein Gut eingeladenen Freunde zu seiner eigenen Erquickung durchprügeln läßt – endlich Puschkin, der Geizhals aller Geizhälse. Man muß davon nothwendiger Weise Act nehmen, daß der Dichter in diesen Figuren dem russischen Volke dessen eigenes Zerrbild vorhält; denn nur so versteht man, was Gogol gewollt. Einseitige Reform verschärfte sein Verlangen nicht. Dieses großrussische Volk – man hat doch bisweilen bei der Lectüre der „Todten Seelen“ die Empfindung, als ob der „Chachol“ aus Kleinrußland über die Fehler der Großrussen in seinem Inneren kichere – verdient nicht, daß es ihm besser ergehe, wenn es sich nicht emporrafft, nicht arbeitet, lernt und zu dem Bewußtsein seiner Menschenwürde gelangt. Das ist die Moral, so weit sie das Volt angeht. Es ist ein ehrliches, ein gutmüthiges, ein leichtgläubiges Volk, das aber trinkt, spielt, entsetzlich schlecht wirthschaftet und trotz seiner angeborenen Ehrlichkeit lügt.

Und so lange das russische Volk sich nicht aufrafft, so lange verdient es, daß das Ungeziefer des Tschin an seinem Blute sauge. Wenn das Volk sich selbst belügt so hat es keine andere Beamtenschaft zu begehren, als diese Rotte von Dieben und Beutelschneidern, welche der Rock den Czars tragen. Der Dichter kann seinem Volke nur mit gutem Beispiele vorangehen, indem er diese Bande unsanft beim Knopfe nimmt, gleichviel, ob es des Kaisers Knopf ist. Und dies thut er, wie kaum jemals ein russischer Schriftsteller es zu thun gewagt hat.

Einen Bureauchef schildert er folgendermaßen: „Er konnte als Muster einer steinernen Gefühllosigkeit und Unerschütterlichkeit gelten, immer derselbe, unzugänglich, niemals ein Lächeln auf dem Gesicht, Niemanden grüßend, kein einziges Mal nach dem Befinden fragend. Niemand hatte ihn jemals anders gesehen, weder auf der Straße noch in seinem Hause; er hatte nie an etwas Theilnahme gezeigt, sich nie betrunken, um auch nicht im Rausche zu lächeln oder ein wildes Lachen auszuschlagen, wie es doch selbst der Räuber thut, wenn er betrunken ist – nicht ein Schatten von alledem war bei ihm zu finden. Er war weder ein Bösewicht noch ein guter Mensch; er hatte weder eine starke noch eine schwache Seite, und nur der Mangel von alledem machte ihn schrecklich. Sein hartes Marmorgesicht zeigte gar keine Aehnlichkeit, zeichnete sich nicht einmal durch auffallende Unregelmäßigkeit aus; die Züge waren alle in einem ärgerlichen Verhältnisse mit einander.“

Damit jedoch kein Zweifel darüber obwalte, daß jede andere menschliche Schwäche bei dem russischen Beamtenstande nur beiläufige Kritik verdiene neben der ungeheuren Neigung zum Diebstahle, vergißt Gogol nie, die berüchtigten Douanenchefs, welche Leiter und Hehler von Schmugglerbanden sind, die schlauen Commissionen, welche Jahrzehnte den Bau von Kronshäusern berathen und dabei, ohne zum Ende zu kommen, die Baugelder aufzehren, mit humoristischem Nachdrucke der Erzählung einzufügen. Und ist es nicht ein Tschinownik, so ist es doch ein Glöckner, der, wie in der Novelle „Der König der Erdgeister“, erst dann vom Schenktische aufsteht, wenn sich ihm die Zunge nicht mehr im Munde bewegt, der aber dann doch „seiner steten Gewohnheit treu, nicht vergißt, eine alte Stiefelsohle zu stehlen, die auf der Bank des Wirthshauses liegt.“

Will man Nicolaus Gogol, wie es geschehen, als den Begründer einer realistischen Dichterschule in Rußland bezeichnen, so mag es dabei sein Bewenden haben. Wenn es Realismus ist, die Wahrheit zu sagen, so mögen die Kritiker, welche in Gogol nur der Dichter würdigen, Recht behalten. Aber was bedeuten hier die Formalitäten, Kunstausdrücke, ästhetische Kategorien? So wenig in aller völkerpsychologischen oder staatsgeschichtlichen Terminologie bis jetzt der Nihilismus eine passende Stelle gefunden hat, so wenig ist Gogol, der Prophet des Nihilismus, literargeschichtlich zu classificiren. Er hat der revolutionären Bewegung in Rußland ihre Ziele gegeben – das ist seine ungeheure That; daß er es als Poet gethan, beweist nur, wie Recht das deutsche Dichterwort hatte, das da meinte, es sei dem Dichter vorbehalten, zu sagen, was er – und mit ihm sein Volk – leide. Weit hinaus ist inzwischen der Nihilismus über das Maß dessen gegangen, was Gogol für erstrebenswerth hielt. Gogol war national; der Nihilismus von heute ist es nicht; Gogol konnte weinen, indem er zerstörte, der Nihilismus weint nicht; Gogol hat Unsterbliches geschaffen, weil er sein Volk trotz aller Schwächen und Fehler liebte; der Nihilismus schafft nichts, weil er nichts liebt, nicht einmal sich selbst.

Drei Jahre nach Gogol starb der Czar Nicolaus; im Wahnsinn war der Dichter hingegangen, und mit gebrochenem Herzen sank die Riesengestalt des unerbittlichen Autokraten zusammen. Was der Dichter als seine Irrung betrachtete, das war in Wahrheit ein gewaltiges Werk; was der Czar als seinen Ruhm angesehen, das zerrann ihm wesenlos vor seinen brechenden Augen. Es scheint noch immer, daß die mächtigen Individualitäten in Rußland nicht friedlich sterben können. Das aber ist der Fluch, aus dessen fürchterlicher Saat der Nihilismus emporwucherte, daß das Recht der Persönlichkeit in Rußland noch immer nicht zur Geltung kommen darf. Es gehen darüber Poeten und Herrscher zu Grunde, aber dem Poeten bewahrt die Nachwelt pietätvolle Erinnerung; die Völker zahlen redlich und dankbar Denen, welche sich um sie verdient gemacht haben.



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_562.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)