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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

poesielosen Schulstuben nicht alles dasjenige vermissen, was man ihnen in den Räumen des Elternhauses sorgsam zu Theil werden ließ.

Andererseits hat die Schule das Recht, zu verlangen, daß ihre Einrichtungen und Anordnungen seitens der Eltern, welche derselben ihre Kinder übergeben haben, genau und unweigerlich respectirt werden. Sie kann sich nicht gefallen lassen, daß die Tochter zu spät zum Frühunterrichte erscheint, weil die Frau Mama nicht zur rechten Zeit aufgestanden ist; sie darf nicht dulden, daß der Sohn die Nachmittagslectionen versäumt, weil der Herr Papa einen guten Freund zu Tisch bei sich sah. Verständige Eltern werden derartige Unzulänglichkeiten thunlichst vermeiden und für möglichsten Einklang des Lebens im Hause mit dem in der Schule kräftig eintreten. Sie werden namentlich Werth darauf legen, mit den Lehrern ihrer Kinder persönlich bekannt zu werden.

Zwar sind derartige Annäherungen eine Sache des Tactes und der Rücksichten der gesellschaftlichen Sitte. Nichts ist den gewöhnlich in ihrer Zeit sehr beschränkten Lehrern unerwünschter, als die unablässig wiederholten Besuche zudringlicher Väter und sentimentaler Mütter, die in jeder Schulstrafe, die ihren Sprößlingen zudictirt worden ist, ein ganz besonderes Unrecht wittern und sich mit Bitten und Thränen bemühen, die gestrengen Herren zur Zurücknahme verfügter Maßregeln oder zur Nachversetzung zurückgebliebener Söhne und Töchter zu bewegen. Nichts ist für gerechte Männer widerwärtiger, als fortwährend mit Kleinigkeiten behelligt, mit unbegründeten Klagen überlaufen, mit Zumuthungen, deren Gewährung gegen Pflicht und Gesetz ist, beunruhigt zu werden. Allein andererseits kann den Lehrern nichts willkommener sein, als von Zeit zu Zeit, insbesondere aus Anlaß wichtiger Fälle, Fühlung mit den Eltern derjenigen Kinder zu gewinnen, die täglich zu ihren Füßen sitzen. Einerseits genügt oft eine Andeutung des Vaters, dem Lehrer Aufschluß über eine Charakter-Eigentümlichkeit des Sohnes zu geben, deren richtige Beurteilung demselben bisher entgangen war. Nicht selten reicht andererseits ein Wink des erfahrenen Lehrers aus, den Eltern Auskunft über die besonderen Fähigkeiten ihrer Kinder und Rath über die daraus zu bauenden Lebenspläne zu ertheilen.

Unbedingt ist zu erwarten, daß verständige Eltern auf regelmäßigen Schulbesuch der Kinder und möglichst uneingeschränkt Theilnahme an allen von der Schule dargebotenen Unterrichtsgegenständen halten. In beiden Beziehungen wird namentlich in solchen Häusern gesündigt, wo die Töchter es verstehen, das leicht bewegte Herz der Mutter zu übertriebener Nachsicht und Aengstlichkeit zu rühren. Bald ist es zu warm, bald ist es zu kalt; heute sind Kopfschmerzen da und morgen Zahnschmerzen im Anzuge; einmal wurde ein bedenklicher Husten gehört; ein andermal sollte die Schwester einer Mitschülerin an den Masern erkrankt sein. Die Begünstigung einer derartigen Verweichlichung des jugendlichen Körpers rächt sich oft für das ganze Leben. Außerdem aber behaupten mißtrauische Mitschülerinnen, und nicht jedesmal mit Unrecht, daß die Zahnschmerzen ihrer kleinen Freundin sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit einstellen, so oft Repetitionen in der Geschichte bevorstehen, und daß die nervösen Kopfschmerzen, wegen welcher die Mama schon den Arzt bemüht hat, fast immer mit der Ablieferung eines französischen Exercitiums zusammenfallen. Man glaubt gar nicht, bis man es bei den eigenen Kindern erlebt hat, wie erfinderisch die Jugend in Schulnöthen ist und wie muthig selbst niedliche kleine Mädchen der Wahrhaftigkeit ein Schnippchen schlagen, zum Entsetzen der Mutter, die noch vor Kurzem in Gesellschaft mit erhobener Stimme versichert hatte, daß „ihre Helene niemals die Unwahrheit sage“. Mit der Befürwortung der Dispensation von einzelnen Schulstunden sollte man ebenfalls zurückhaltend sein. Allerdings kann der Fall eintreten, daß Kinder in gewissen Lectionen, z. B. im Singen, durchaus leistungsunfähig sind, oder daß die Rücksicht auf den Gesundheitszustand wünschenswert macht, schwächliche und in schnellem Wachsthum begriffene Mädchen von sitzenden Beschäftigungen, wie Handarbeiten und Zeichnen, zu befreien. Allein der Gewinn solcher Erleichterungen, die ebenso häufig von der Bequemlichkeit wie von der Notwendigkeit gefordert werden, pflegt ein problematischer zu sein. Nur selten gestattet der Lectionsplan, daß die dispensirten Schüler die freien Stunden zur Muße und Erholung ausnutzen. Entweder sie müssen stumme Zuhörer der singenden Classe sein, oder sie gehen nach Hause, um nach kaum einer Stunde wieder zur Stelle zu sein. Wer hätte noch nicht beobachtet, daß muntere Quartaner, deren belegte Stimme sie angeblich am Mitsingen verhinderte, auf dem Schulwege durch kniehohen Schnee wateten, und daß zarte Schülerinnen, deren „Augenschwäche“ ihnen Nähen und Häkeln verbot, in später Abendstunde über heimliche Perlenstickereien gebückt saßen? Hier sollte der Rath gefälliger Hausärzte den Wünschen schwacher Mütter nicht allzu weit entgegen kommen.

Doch fordern wir Strenge in der Behandlung der Kinder der Schule gegenüber, so heischen wir auch von der Schule peinliche Pflichterfüllung und zarte Rücksichtnahme den Kindern gegenüber. Niemand wird im Ernste behaupten wollen, daß alle Einrichtungen unserer Schulen das körperliche Gedeihen der ihnen anvertrauten Kinder in jeder Weise begünstigen oder auch nur ermöglichen. Die Classenzimmer sind vielfach zu eng und zu niedrig, als daß eine große Schaar von Schülern einen zuträglichen Aufenthalt darin fände. Die Ventilationsvorrichtungen sind an vielen Stellen so mangelhaft, daß die Luft nach wenigen Unterrichtsstunden total verdorben ist. Die Heizung ist hier und da so unzweckmäßig, daß die Lungen der Kinder dadurch Schaden leiden müssen, und mit der Einführung von technischen Neuerungen hat man es selbst in großen Städten kaum über das Stadium des Experimentirens hinausgebracht. Die Beleuchtung läßt zuweilen zu wünschen übrig; die Bänke und Tische entsprechen nicht überall ihrem Zwecke. Solche unleugbar vorhandenen Uebelstände sollten überall mit unerbittlicher Energie beseitigt werden; denn ihre Abhülfe gehört in der That zu den wichtigsten Aufgaben der öffentlichen Wohlfahrtspflege.

Eine brennende Schulfrage ist die der Ueberbürdung der Schüler und Schülerinnen mit häuslichen Arbeiten;“[1] sie beschäftigt nicht erst seit heute oder gestern die Welt. Seit Jahrzehnten wird sie im Familienkreise und am Biertische, in Volksversammlungen und in der Presse, in Directorenconferenzen und Parlamenten immer und immer wieder aufgeworfen, um von den Einen eifrig bejaht, von den Anderen heftig verneint zu werden. Der diese Zeilen schreibt, steht sich unbedingt und rückhaltlos auf die Seite Derjenigen, welche die Frage: ob Ueberbürdung oder nicht? bejahen. Er beruft sich dabei nicht nur auf Wahrnehmungen an seinen eigenen Kindern, sondern auch auf die Erfahrungen, die er als Gymnasiallehrer und Lehrer an einer höheren Töchterschule eine Reihe von Jahren hindurch gesammelt hat.

Die Anforderungen der Lehrpläne, vorzüglich der höheren Schulen, zu denen wir auch die sogenannten Töchterschulen rechnen, obgleich uns nicht unbekannt ist, daß dieselben wenigstens im Sinne der preußischen Verwaltung keine „höheren“ Schulen sind, wurden in den letzten Jahrzehnten so rapid gesteigert, daß die Schulen dieselben nur durch eine teilweise Abwälzung auf die dem Hause gehörigen Stunden bewältigen zu können glauben. Zwar fehlt es weder an gesetzlichen Untersagungen der Behörden noch an Warnungen der Directoren vor einer Ueberschreitung des zulässigen Maßes. Allein über dieses Maß gehen eben die Meinungen weit aus einander.

Ein zehnjähriges Mädchen hat sechs Stunden in der Schule gesessen und ist in Folge dessen abgespannt. Die Puppe winkt; der Garten lockt; die Mutter ruft zum Spaziergang – das Kind muß arbeiten. Da ist ein Aufsatz oder eine Abschrift anzufertigen, eine Uebersetzung zu machen; da sind Liederverse zu lernen, Vocabeln einzuschreiben, Exempel zu rechnen. Die schönsten Tagesstunden gehen hin, ohne daß das Kind eine tüchtige Bewegung im Freien, ein zerstreuendes Spiel im Hause vornehmen könnte.

In den mittleren und oberen Classen der Gymnasien sind die Ansprüche noch ungleich höher geschraubt: Halbwüchsige Jungen plagen sich bei der Studirlampe bis in die Nacht hinein mit lateinischen und griechischen Autoren herum. Es steht fest, daß das Familienleben durch die Uebermasse der Schularbeiten durchlöchert, getrübt, in gewisser Beziehung geradezu aufgehoben wird. Selbst die berühmten und hochgelobten freien Nachmittage am Mittwoch und Sonnabend werden durch Extra-Arbeiten beschnitten. Und wo bleiben die Musikstunden, zu denen der Geschmack der Gegenwart alle Mädchen und viele Knaben der gebildeten Stände verpflichtet? Es täte Not, daß man die schulfreien Sonntage dazu zu Hülfe nähme.

  1. Wir gedenken der wiederholt von uns zur Sprache gebrachten Frage der Ueberbürdung der Schüler demnächst in einer ausführlichen Darlegung aus fachmännischer Feder abermals näher zu treten. Man vergleiche übrigens unseren Artikel „Schule und Nervosität“ in Nr. 1 dieses Jahrgangs!
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_591.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)