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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Kennen Sie Rousseau? Ein unglückseliger Mensch mit seiner Tugenddressur! Tugend! Wer spricht noch viel davon! Es ist Rococo geworden, das Wort. Wir aber wurden zur Tugend erzogen, das heißt, zur Bescheidenheit, zur Friedfertigkeit, zur Diensteifrigkeit gegen jeden Andern, zur Höflichkeit, zur weichen und weichlichen Hegung unserer Gefühle, zum Erdulden, Ertragen, Entsagen. Das ist nun Alles anders. Heute gelten andere Grundsätze. Aus Eurer Lehre vom Kampf um’s Dasein fließt eine Moral, welche der entgegengesetzt ist, in der wir erzogen sind. Bescheidenheit? Wohin würden wir mit ihr in dieser friedlosen Welt gelangen? Setz’ deine Schultern ein, dräng’ dich vor, stoß’ die Andern zurück, rede laut, damit man dich vernimmt, greife zu, damit du fassest, und statt des Herzmuskels stähle die Muskel deiner Arme! Das ist Eure Moral. Man erzog uns für den hohen reinen Aether des Ideals; man suchte unserer Seele die Schwingen zu geben, welche sie in dieser Luft trügen, hoch über dem dunklen Strome der irdischen Dinge, der gemeinen Wirklichkeit. Euch Kinder von heute aber lehrt man in diesem Strome schwimmen, mit dem Strome schwimmen. Sprecht Ihr von Idealen, so seid Ihr Fische bei Sonnenschein; Ihr schnellt über Eurem Gewässer empor in die reine goldige Luft, um gleich darauf wieder zurückzuplumpsen in Euer Wasser. Und nun sagen Sie, ist es ein Wunder, daß ich nicht die Energie habe, welche Sie von mir verlangen? Ich bin gelehrt worden, daß es besser ist, sich Liebe zu gewinnen, als sein Recht zu erkämpfen, und was man in den Knaben von heute als Willenskraft und Charakter zu stählen sucht, das brach man in uns als Eigensinn und Hartnäckigkeit. – Aber hier ist eine andere Bank, auf welcher man uns hoffentlich ungestört lassen wird – mein Gott, wie thut mir die Luft wohl!“

Der Baron lenkte auf die Bank zu und setzte sich darauf, Leonhard neben sich ziehend.

„Es freut mich, daß Ihnen die Luft wohl thut,“ sagte er lächelnd; er dachte: „die Luft, die Sie sich durch Ausschütten Ihres Herzens machen.“

„Das Leben,“ sagte er laut, „mußte Sie aber doch in Lagen, in Conflicte bringen, wo Ihre Energie herausgefordert wurde; das Leben eines reichen Mannes, eines großen Grundbesitzers kann nicht ohne Kämpfe bleiben – qui terre a, guerre a; Sie waren verheirathet, und so viel ich weiß, nicht glücklich …“

„Nicht glücklich?“ fiel der alte Herr mit einem schmerzlichen Lächeln ein. „O, da irren Sie – irren sehr. Ich war so glücklich in meiner Ehe, daß es mich erdrückte, mein Glück. Meine Frau war so schön, so geistreich, eine so glänzende Erscheinung. Sie war gewöhnt daran, vergöttert zu werden. Aber sie wählte mich; sie liebte mich; sie ließ sich wie eine beglückende Göttin zu mir nieder. Wie eine Göttin. Doch sie trug in ihrer hochgemutheten Brust auch den den höchsten Sternen nachtrachtenden Seelenschwung einer Göttin: sie verlangte eine volle Unendlichkeit von Glück, durch die ununterbrochene Empfindung und Ueberzeugung, daß sie mich grenzenlos beglücke. Ich sollte beglückter sein, als je ein Mensch gewesen, als die ewigen Götter es sind in ihrem Olymp. Und da ich kein Gott bin, auch in meiner von der Natur ein wenig schmal angelegten Brust keinen Raum habe für das Glück eines Gottes, wurde sie unzufrieden mit mir. Ich war ihr nicht dithyrambisch genug; mir fehlte das Pathos, von dem sie getragen sein wollte. Sie that das Zweckmäßigste, was sie unter solchen Umständen thun konnte, um mir eine tiefere Empfindung meiner Seligkeit beizubringen –: Sie demüthigte mich; sie zeigte mich mir selber zwerghaft klein; aus meiner Unbedeutenheit, aus der Tiefe meines Nichts sollte ich zu ihr aufschauen; sollte ich enthusiastischer das Glück ihres Besitzes empfinden. Was dabei mich, mein Denken und Fühlen, mein eigenes Sein anging, so kümmerte es sie wenig. Sie durfte ja nicht zeigen, daß ich ihr etwas, daß ich ihr wichtig sei. Je weniger ich ihr war, desto tiefer mußte ich empfinden, was ich an ihr besaß. Nun bin ich aber leider, wie jeder Sterbliche, nicht ohne Selbstgefühl, nicht ohne Eitelkeit, wenn Sie wollen. Statt eines dithyrambischen Sturmes meiner Gefühle rief das Wesen meiner Frau nur eine sinnige Stille, eine entsagungsvolle, vielleicht ein wenig satirische Abkühlung hervor. Nach ein paar Jahren, die uns weiter und weiter von einander abrückten, kam ein Entschluß der Entsagung auch über sie. Sie entsagte aller Hoffnung auf die Ausdehnungskraft meines Herzens. Und dann fand sie einen Mann, der ihr glückrauschfähiger als ich scheinen mochte … es war ein Künstler, ein Maler, ein Idealist von Profession … sie betrogen mich eine Weile, und als sie inne wurden, daß ich mich geduldig betrügen ließ und herzlich zufrieden war, nicht der Beglückte sein zu müssen, als die Sache für sie das Pikante verlor, beschlossen sie, dies durch einen Zuwachs von Romantik zu ersetzen. Sie flohen in die weite Welt hinaus – sie gingen mit einander durch, und ich habe sie nicht wieder gesehen. Sie sehen, Klingholt, von welcher Seite auch Sie mein Schicksal betrachten wollen, von der elegischen, wie ich es zu thun mir angewöhnt habe, oder von der humoristischen, wie Sie sich geneigt fühlen werden, es zu thun – Conflicte, Kämpfe, Katastrophen – damit hat das Leben mich verschont, und die allgemeine Wehrpflicht der Menschenexistenz hat mich immer in der stillen Friedensgarnison von Dortenbach gelassen.“

Der alte Herr schwieg, indem er sinnend in die Ferne blickte; auch Leonhard, der wohl gefühlt, daß durch die Worte des Redenden mehr Bitterkeit und altes Leid gezittert, als er verrathen wollte, blieb eine Weile stumm, bis er, aufstehend, sagte:

„Das Sprechen wird Sie doch erhitzt haben; es möchte besser sein, wenn wir heimwärts wandelten.“

Der Baron folgte, sich erhebend, seiner Mahnung. Dabei sagte er in leisem Tone, wie im Bedürfnisse, nun vor sich selber auch das noch auszusprechen:

„Nur einmal – so ist’s mir jetzt – nur einmal schien damals das Schicksal meine volle Energie herausfordern zu wollen. War mir’s doch schon damals, als ob eine derbe, ehrliche Faust mich bei der Brust packte und schüttelte und eine zornige Stimme mir zurief: sei einmal ein tüchtiger Wütherich und fahre darein, mache diesen empörenden Scenen ein Ende, dulde die Schmach nicht länger …!“

„Und Sie hörten auf den Ruf?“

„Was wollen Sie – nein!“ antwortete der alte Herr. „Es handelte sich zwar um meine arme jüngste Schwester – die gute Sabine – aber wie hätt’ ich’s durchführen können … den Kampf mit Eltern, die mich zur Bescheidenheit, Unterwürfigkeit, Tugend erzogen hatten – wie hätt’ ich’s können? Doch das ist lange her – es ist Gras darüber gewachsen – Gras über Gräbern, und heute, heute,“ setzte er mit einem tief schmerzlichen Seufzer hinzu, „ist das Alles so gleichgültig, wie ob der Wind, der durch die Grashalme auf diesen Gräbern weht, aus Osten oder aus Westen bläst. Ich bin ein alter einsamer Mann darüber geworden, dessen Herzen Niemand nahe steht, Niemand! Oft ist mir der Gedanke gekommen, es sei das wenigstens meine eigene Schuld; ich hätte Jemand adoptiren, an Kindesstatt annehmen sollen; aber fand ich denn je irgend einen jungen Menschen, bei dem ich hätte Vaterpflichten übernehmen mögen … ein mir sympathisches junges Wesen, das ich hätte immer um mich sehen mögen?“

„Sie könnten diesen Gedanken noch jetzt ausführen,“ sagte Leonhard. „Da ist zum Beispiel Fräulein Dora,“ setzte er lächelnd hinzu.

Der alte Herr schüttelte lebhaft den Kopf. Dann seufzte er tief auf und schwieg.




4.

Leonhard brachte den Baron auf sein Zimmer zurück, und dann verabschiedete er sich von ihm für eine Weile, um zum Forsthause hinüberzugehen. Er hatte seinem Vater versprochen, ihm möglichst bald Bericht zu erstatten, wie er den alten Herrn gefunden und was er für Mittel anwenden werde, den Lebensfaden einer Existenz zu verlängern, von der ja fast die eigene Existenz für seinen Vater abhing.

Leonhard fand diesen mit seiner Mutter und seinem viel jüngeren Bruder Edwin – Edwin war Eleve der Anstalt zu Neustadt-Eberswalde gewesen und bereitete sich jetzt daheim auf sein Oberförsterexamen vor – um den Kaffeetisch versammelt; in der gemüthlichen Wohnstube mit den alten Niedinger’schen Kupferstichen in schwarzen Holzrahmen, mit den alten saubern, wieder und wieder aufpolirten Möbeln, die doch immer noch so schön glänzten, als ob die Försterin Klingholt, die Frau mit den großen gutmüthigen blauen Augen, ein Geheimmittel dafür besitze. Leonhard setzte sich zu ihnen in den Sessel, den Edwin beflissen herantrug, erbat sich auch von diesem eine Cigarre – „die Cigarren der Herren Söhne sind immer denen der Väter vorzuziehen,“ sagte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_243.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)